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„Sweeping change of mindset“

11.09.2014 17:32
In den letzten zehn Jahren hat sich die Rate an diabetesbedingten Komplikationen nicht relevant verändert. Auch sind die direkten Kosten des Diabetes mit 633 Euro pro Versicherten im Vergleich zur KoDIM-1-Studie annähernd gleich geblieben. Das macht die neue KoDIM-2-Studie „Kostentreiber Diabeteskomplikationen“ – eine Analyse der Versichertenstichprobe AOK Hessen/KV Hessen für das Jahr 2010 – klar, die zwar schon auf dem DDG in Berlin in Auszügen präsentiert wurde, aber erst jetzt als Volltext-Publikation erschienen ist. Novo Nordisk und Lilly haben diese Neuauswertung zu Diabetes-Kosten in Deutschland mit ihrem Sponsoring ermöglicht, um die gesundheitspolitischen Akteure bei der Planung und Ausgestaltung der Diabetesversorgung mit neuem Datenmaterial zu unterstützen.

Die ursprüngliche Auswertung mit Daten aus dem Jahr 2001 ist bisher durchaus als die deutsche Standardreferenz zu allgemeinen Kosten der Diabetesbehandlung  anzusehen. Auch die aktualisierten Zahlen werden dies wohl aller Voraussicht nach für die kommenden Jahre werden. Indes ist es relativ frappierend festzustellen, dass im Vergleich zur Vorgängerstudie eine recht divergente Entwicklung der Kosten zu sehen ist.

Einerseits blieben die individuellen Kosten pro Diabetiker im Vergleich zur ersten KoDiM-Studie (die auf Daten aus dem Jahre 2001 aufsetzt) über die Jahre nicht nur weitestgehend konstant, sondern sanken im Bereich der Diabetes-Behandlungskosten sogar um 6,7%.

Andererseits erhöhen sich die diabetesbezogenen Exzess-Kosten* auf 35,4 Milliarden Euro, wovon rund 76 Prozent auf die Behandlung von Folgeerkrankungen und Komplikationen (14,4 Mrd. Euro sowie für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung (14,4 Mrd. Euro) entfielen. Die Gründe: die steigende Zahl von Diabetikern. Und: Eine ebenso steigende Zahl an Komplikationen.

So weisen laut der aktuellen KoDIM-Studie (auf Basis der Zahlen des Jahres 2010) 64,4 Prozent der Diabetespatienten mindestens eine der ausgewählten Folgeerkrankungen auf:
• Augenerkrankungen: 18 %
• Nierenerkrankungen: 16 %
• neurologische/periphere vaskuläre Erkrankungen: 28 %
• kardiale/zerebrovaskuläre Erkrankungen: 40 %.

Laut den KoDIM-Zahlen (eigentlich CoDiM für Costs of Diabetes Mellitus) werden rund drei Viertel der Diabetes-Behandlungskosten pro durchschnittlichem Patient durch Komplikationen verursacht, hingegen nur ein Viertel durch die Behandlung der Grunderkrankung:
• Behandlung der Grunderkrankung inklusive Stoffwechsel-entgleisungen: 633 Euro
• diabetes-assoziierte Folgeerkrankungen: 2.047 Euro
• Gesamtkosten: 2.680 Euro

„Unser Hauptziel sollte es sein, Komplikationen von Anfang an durch eine frühzeitige Therapie zu vermeiden. Bislang ist hier aber noch kein klarer Trend erkennbar“, erklärte Prof. Dr. Hans Hauner schon bei der ersten Präsentation der Daten auf dem DDG; Daten, die nun durch Köster et al im Online-Portal des internationalen Thieme-Fachjournals „Experimental and Clinical Endocrinology & Diabetes“, dem offiziellen Organ von DGE und DDG, publiziert wurden.

Angesichts des prognostizierten Prävalenzanstieges auch in den nächsten Jahren stellt dies nicht nur das deutsche Gesundheitssystem vor eine große Herausforderung. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) zeigen einen Prävalenzanstieg um 38 Prozent im Vergleich zum Bundesgesundheits-Survey 1998 (BGS98). Davon ist etwa ein Drittel auf die demografische Alterung der Bevölkerung zurück-zuführen. Eine frühzeitige, wirksame Diabetesbehandlung kann langfristig sowohl Kosten vermeiden als auch die Lebensqualität der Patienten verbessern. Dabei sollten auch die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Diabetes nicht zu kurz kommen. „Neben der konsequenten Behandlung von Folgekomplikationen gilt es künftig, den Fokus noch stärker darauf zu legen, Komplikationen zu vermeiden“, führte Hauner anlässlich der ersten Präsentiaon der neuen KoDIM-Zahlen im Rahmen der 7. Tagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Berlin weiter aus. „Handlungsbedarf sehe ich sowohl bei der Prävention des Diabetes als auch bei einer frühzeitigeren medikamentösen Therapie, die nicht nur nach Schema F vorgeht.“

Auswege aus der Milliardenfalle Diabetes sieht Hauner in drei Dimensionen:
• Zum einen müsse bei neu entdeckten Diabetes eine rasche Optimierung des Blutzuckers eingeleitet werden.
• Zum zweiten brauche es eine bessere Versorgung der Problemfälle durch Casemanagement, was nur durch die Verbesserung des Schnittstellenmanagements zwischen niedergelassenen Ärz-ten, Schwerpunktpraxen und Kliniken erreicht werde.
• Zum dritten müsse die Prävention gestärkt werden, das wolle zwar keiner mehr hören, aber das sei die einzige Wahrheit, auch wenn sie nur schwer in die Köpfe der Kassen und der Politik zu bekommen ist.

Immerhin hat die Politik ja „schon“ reagiert. Dazu brauchte sie auch nur ein Viertel Jahrhundert. Soviel Zeit ist seit dem Jahr 1989 vergangen, als in der St. Vincent Declaration (unterstützt von der WHO Europa) und 2006 erneut durch den Rat der Europäischen Gemeinschaft und die Vereinten Nationen nationale Diabetespläne in Europa gefordert und inzwischen in den meisten Euro-Staaten auch umgesetzt wurden (s. MVF 04/14) – nur eben bislang in Deutschland nicht.

Endlich ein NDP für Deutschland

Das könnte sich nun relativ schnell ändern. Denn in der letzten Bundesratssitzung vor der Sommerpause hat nach einer Empfehlung durch den Gesundheitsausschuss die Mehrheit im Bundesrat für die Umsetzung eines Nationalen Diabetesplans (NDP), gefördert durch eine Initiative der Bundesländer Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Thüringen, gestimmt.

Mit Drucksache 252/14 bittet der Bundesrat die Bundesregierung, noch in diesem Jahr den Entwurf eines Bundespräventionsgesetzes vorzulegen, das zukünftig und nachhaltig als strukturelle und finanzielle Sicherung für Prävention und Gesundheitsförderung dienen kann. Ebenso bittet der Bundesrat die Regierung, einen Nationalen Diabetesplan vorzulegen, der ein Konzept enthält, das sowohl Präventionsstrategien, Früherkennungsmaßnahmen und Vorschläge für neue Versorgungsmodelle als auch für die Stärkung der Selbsthilfe beinhaltet.

Im Einzelnen sind laut dieser Bundesdrucksache, die sich damit eng an den Vorschlag von diabetes.de und DDG zu einem NDP hält, unter Berücksichtigung der Vorgaben eines Bundespräventionsgesetzes und der Erfahrungen bei der Umsetzung des Nationalen Krebsplans, folgende Aspekte für alle Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen:
• primäre Prävention des Diabetes stärken,
• Strategien zur Reduzierung und Transparenz von Zuckergehalt in Lebensmitteln,
• Früherkennung des Typ-2-Diabetes intensivieren,
• epidemiologi-sche Datenlage verbessern,
• Versorgungsstrukturen und sozialmedizini-
sche Nachsorge
qualitativ sichern,
• Patientenschulung und Patientenselbstbefähigung ausbauen, auch für Kinder und Jugendliche im Setting Kindertagesstätte und Schule.

„Für die deutsche Diabetologie ist heute ein besonderer, ja fast historischer Tag, weil wir einen Meinungsbildungsprozess auf Bundesebene angestoßen haben“, erklärte dazu Prof. Dr. med. Thomas Danne, der Vorstandsvorsitzende von diabetesDE. Obwohl er genau weiß, dass die deutsche Diabetologie damit noch nicht ganz am Ziel zur Etablierung eines Nationalen Diabetesplans angekommen ist. Denn nun ist wieder die Bundesregierung am Zug, die in Person des damaligen Gesundheitsministers Bahr schon den ersten Aufschlag zu einem NDP abgeschmettert hatte.

Dazu hätte die Bundesrepublik auch allen Grund, liegt es doch in der Prävention von Übergewicht,  Krebs, von Herz-Kreislauf-erkrankungen und auch des Diabetes deutlich hinter der internationalen Entwicklung zurück. Dies zeigte sich auch beim Gipfel gegen nichtübertragbare Krankheiten, der Mitte Juli in New York im Rahmen der UN-Generalversammlung stattfand. Viele Länder haben inzwischen bevölkerungsweite Maßnahmen ergriffen, um die Risikofaktoren dieser Krankheiten, die mehr als 80 Prozent aller Todesfälle verursachen, zu reduzieren. Indes: Die Bundesregierung blieb dieser UN-Konferenz fern.

In einem dramatischen Appell erinnerte die Chefin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Chan, daran, dass die Übergewichtsepidemie seit drei Jahrzehnten immer schlimmer werde – statt besser. Sie forderte zu einem drastischen Paradigmenwechsel auf („sweeping change of mindset“): „Wir denken immer noch zu sehr in Krankheiten, statt in der Verhinderung von Krankheiten.“ Die UN-Generalversammlung beschloss, dass die Staaten bis zum kommenden Jahr nationale Ziele entwickeln und nationale Pläne aufstellen sollen, um die vorzeitige Sterblichkeit durch chronische Krankheiten bis 2025 um ein Viertel zu senken.

„Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung sich an dieser Debatte im höchsten UN-Gremium nicht beteiligt und damit die Chance auslässt, von internationalen Erfahrungen zu lernen“, erklärt Dr. Dietrich Garlichs, Geschäftsführer der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), der an der Konferenz teilnahm wie Dr. Stefanie Gerlach, Leiterin Gesundheitspolitik von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe. Beide hatten bereits 2011 am ersten UN-Gipfel gegen die nichtübertragbaren Krankheiten teilgenommen. Den Staaten werden zudem sektorengreifende Koordinierungsmechanismen empfohlen und die Einrichtung einer verantwortlichen Zuständigkeit auf hoher politischer Ebene. „Daher fordern wir seit langem einen Bundesbeauftragten für Diabetes und Adipositas, der in der Umsetzung eines Nationalen Diabetesplans eine wichtige Rolle einnehmen würde“, ergänzt  Gerlach.

Neben dem Bundesrat, der Deutschen Diabetes Gesellschaft und der Deutschen Diabetes Hilfe unterstützen auch die forschenden Pharma-Unternehmen die Forderung nach einem nationalen Diabetesplan. Dazu sagt vfa-Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer: „Diabetes gehört zu den Erkrankungen, deren Häufigkeit auf der ganzen Welt im Zuge einer längeren Lebenserwartung und eines wachsenden Wohlstands zunimmt. Jedes Land muss sich fragen, ob sein Gesundheitssystem darauf gut vorbereitet ist. In Deutschland ist keineswegs alles getan, was möglich wäre.“

Auch ein Preis des Erfolgs

„Die größte Herausforderung bei Diabetes ist das Zusammenwirken der vielen beteiligten Akteure. Die Stärkung der Prävention und der Früherkennung, ein gesunder Lebensstil, eine stetige Weiterentwicklung und Erforschung medikamentöser Behandlungsmöglichkeiten, die Entwicklung besserer Versorgungsstrukturen und der Ausbau der Patienteninformation sind die unverzichtbaren Eckpunkte einer effektiveren nationalen Diabetesstrategie. Diese Themen können nur gemeinsam von Patienten, Ärzten, Leistungserbringern, Forschern, Gesundheitsunternehmen, Kassen und Politik angegangen werden. Und genau das sollten wir jetzt tun und gemeinsam einen nationalen Diabetesplan erarbeiten“, so Fischer weiter.

Dass sich eine frühe, gute Diabeteseinstellung langfristig auszahlen und Komplikationen vermeiden kann, belegen hingegen aktuelle Daten, die bereits im Rahmen der diesjährigen Jahrestagung der American Diabetes Association (ADA) in Chicago vorgestellt worden waren. „Die DCCT/EDIC-Studie zeigt beispielsweise, dass eine frühzeitige intensivierte Insulintherapie bei Menschen mit Typ 1 Diabetes das Risiko für Herz-, Augen- und Nierenkomplikationen im Vergleich zur Kontrollgruppe mit konventioneller Insulintherapie deutlich reduzieren kann“, sagte Prof. Dr. Oliver Schnell ebenfalls bereits auf dem DDG. Das Risiko für das Auftreten von Diabeteskomplikationen sei nach etwa 30 Jahren Behandlung immerhin um rund 50 % verringert worden.
Allerdings werden die Menchen auch durch den sonstigen Fortschritt in Medizin und Medizintechnik immer älter. Zwar sei auch die mittlere HBA1c-Einstellung im Zeitverlauf schon besser geworden, setzte Hauner ergänzend dazu, was das Ergebnis einer besseren Therapie und der Blutzuckerselbstkontrolle in Verbindung mit besserer ärztlicher Betreuung, aber auch den DMP geschuldet sei.

Dennoch wären „immer noch wahnsinnig viele Komplikationen“ zu verzeichnen, die die Patienten und das Gesundheitssystem belasten würden; ein Fakt, so Hauner weiter, „der aber auch ein Preis des Erfolgs ist, weil die Patienten immer älter werden“. Damit seien Komplikationen „nicht immer Ausdruck einer schlechten Therapie, sondern Auswirkungen des Älterwerdens an sich“. Auch wenn es für die Annahme, dass speziell Menschen mit Diabetes länger leben würden als früher, bisher lediglich Hinweise, aber noch keine Evidenz gäbe.

Ausgabe 05 / 2014