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Demenz-Studie: Einsatz von Psychopharmaka hochbedenklich

20.11.2020 10:17
Rund 30 % aller demenzerkrankten männlichen hkk-Versicherten bekamen im Zeitraum eines Jahres mindestens einmal ein Psychopharmakon verordnet, obwohl diese Medikamente bei Menschen mit Alzheimerdemenz mehr schaden als nutzen. Dabei handelt es sich größtenteils um Neuroleptika, die üblicherweise bei Schizophrenie und Psychosen angewendet werden. Das ist das Ergebnis des aktuellen Demenzreports der Universität Bremen unter der Leitung des Arzneimittelexperten Prof. Gerd Glaeske in Kooperation mit der hkk Krankenkasse.

Bremer Arzneimittelexperte Prof. Gerd Glaeske kritisiert Fehlversorgung mit Neuroleptika

Die Neuroleptika-Fehlversorgung belastet männliche und weibliche Patienten in ähnlicher Weise. Die
Analysen zeigen, dass der prozentuale Anteil der betroffenen hkk-Versicherten mit Neuroleptika-
Verordnungen über die Jahre insgesamt sogar angestiegen ist.

Unterschiedliche Psychopharmaka und Schlafmittel, vor allem Neuroleptika und Benzodiazepine, werden
zusammengenommen deutlich häufiger verordnet als Antidementiva. Diese sollten trotz mancher Zweifel
an ihrer Wirksamkeit jedoch bevorzugt eingesetzt werden, um die Chance zu erhöhen, das Fortschreiten der
Demenz zu verlangsamen.

"Es gibt keinen Grund, Demenzerkrankte mit konventionellen Neuroleptika zu behandeln, da nicht belegt
ist, dass diese Medikamente Verhaltensstörungen bei den Betroffenen positiv beeinflussen", sagt Glaeske.
Darüber hinaus verdichten sich seit einigen Jahren die Hinweise, dass Neuroleptika bei Demenzerkrankten
schwerwiegende unerwünschte Folgen, wie etwa Herzinfarkt, Schlaganfall sowie Lungenentzündung,
haben können und mit einer insgesamt erhöhten Sterblichkeit zu rechnen ist. Die noch immer häufige
Verordnung ist auch deshalb besorgniserregend, weil die Zulassungsbehörden und auch die
pharmazeutischen Unternehmen die Ärzt*innen schon vor mehr als zehn Jahren auf das erhöhte
Sterberisiko hingewiesen haben.

Außerdem können Neuroleptika bei Ruhelosigkeit und sogenanntem herausfordernden aggressiven
Verhalten von Demenzpatient*innen möglicherweise zu einem rapiden Verfall der kognitiven
Leistungsfähigkeit beitragen. Glaeske: "Eine kurzfristige Anwendung ist lediglich dann vertretbar, wenn die
Betroffenen ohne entsprechende Medikation eine unbeherrschbare Gefährdung für sich oder andere sind."

Hausärzt*innen in der Zwickmühle


Als Ursache für die häufige Anwendung von Neuroleptika über lange Zeiten nennen Forscher [1] unter
anderem emotionales Stressempfinden bei den Betreuungspersonen (überwiegend bei den Pflegenden), das
von Hilflosigkeit, Überforderung, Ärger, Unzufriedenheit und körperlicher Bedrohung geprägt ist.
Die Bremer Hausärztin und Geriaterin Heike Diederichs-Egidi kennt die immensen Belastungen von
Angehörigen und Pflegekräften aus ihrem Praxisalltag: "Es ist für alle extrem belastend, wenn ein dementes
Familienmitglied jede Nacht Kinder und Eltern aufweckt. Die Kinder schlafen in der Schule ein und die Eltern
sind praktisch arbeitsunfähig. Da befinde ich mich als Hausärztin in einer Zwickmühle - wem werde ich jetzt
wie gerecht und wessen gesundheitliches Risiko schätze ich höher ein?" Natürlich verschreibe sie dann
zunächst Neuroleptika, damit sich die Situation entschärft. Denn die gesundheitlichen Belastungen seien
auch für pflegende Angehörige und Pflegekräfte enorm. "In den Pflegeheimen kommt der Personalmangel
hinzu - diese Situation erlebe ich zunehmend als unwürdig." Gleichwohl lehnt auch sie die längerfristige
Verordnung von Neuroleptika ab.

"Aktivierende Pflege statt chemischer Ruhigstellung"

Glaeske fordert deshalb, dass Verhaltensstörungen bei Demenz vorrangig durch eine Optimierung der
Pflegesituation, ein gezieltes Training von Alltagsfertigkeiten oder durch milieutherapeutische Maßnahmen
wie Ergotherapie behandelt werden. "Das Wichtigste ist, für die Erkrankten so lange wie möglich ihre
Würde sowie ihre Alltagsfähigkeiten aufrechtzuerhalten und ihnen Erinnerungen aus ihrer früheren
Lebenszeit zu bewahren. Die immer noch weit verbreitete Verordnung von ruhigstellenden Mitteln bei
Menschen mit Demenz ist langfristig keine akzeptable Strategie", sagt der Bremer Arzneimittelexperte.
"Insgesamt sollten zudem die sich mehrenden Hinweise auf Präventionsmöglichkeiten zur Verringerung der
Alzheimerdemenz berücksichtigt werden - Bewegung, Ernährung, Kommunikation und
Beschäftigungsmöglichkeiten gehören dazu."

Diederichs-Egidi empfiehlt darüber hinaus die Verwendung von Biografiebögen und auf die jeweilige Person
zugeschnittene Beschäftigungsangebote in Pflegeheimen, um den individuellen Bedürfnissen und
Erfahrungen der Patient*innen gerecht werden zu können. "Nicht jeder will tagein, tagaus Mensch ärgere
Dich nicht spielen", so Diederichs-Egidi. Eine individuelle Ansprache helfe Demenzerkrankten, sich zu
beruhigen.

[1] Höwler E (2010). Herausforderndes Verhalten bei Personen mit demenziellen Veränderungen aus der
Perspektive von Pflegenden - Erleben und Strategien. Stuttgart: Kohlhammer.