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Große medizinische Versprechungen bedroht durch Schnellverfahren in der Zulassung und Boom von Wunderheilmitteln

08.06.2020 15:36
In einem erstmaligen Bericht fordern die Europäischen Akademien der Wissenschaften (EASAC) und der Medizin (FEAM) die europäischen Gesetzgeber auf, die biomedizinische Wissenschaft vor falschen Behauptungen zu schützen. "Stammzell- und genbasierte Therapien bergen vielversprechendes medizinisches Potenzial. Wir sind jedoch beunruhigt über den Trend, immer geringere Ansprüche an den wissenschaftlichen Nachweis zu stellen. Außerdem finden wir es problematisch, dass Kliniken kommerziell Produkte und Dienstleistungen anbieten, die nicht reguliert sind", sagt Prof. Volker ter Meulen, Ko-Vorsitzender der EASAC-FEAM-Arbeitsgruppe und ehemaliger Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

Wissenschafts- und MedizinexpertInnen aus ganz Europa warnen davor, dass die Begeisterung über das breite Anwendungspotenzial der regenerativen Medizin zu einer Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Umsetzung in die klinische Praxis geführt habe. "Allerdings betrifft dies nicht die Immunzell- und Immungentherapien in der Onkologie, die sehr etabliert sind. Dort bewirken sie bei vielen Erkrankungen bereits ein exzellentes Ansprechen", kommentiert Prof. Hermann Einsele vom Universitätsklinikum Würzburg.

Schnellverfahren in der Zulassung gefährden Patienten

"Analysten erwarten, dass der Markt für regenerative Medizin in den nächsten Jahren schnell wachsen wird. Es ist nur natürlich, dass dies sowohl bei verzweifelten Patienten als auch bei der Biotech-Industrie große Hoffnungen weckt", sagt Prof. Giulio Cossu von der Universität Manchester. "Infolgedessen steigt der Druck auf die Regulierungsbehörden, die Genehmigungsverfahren für stammzell- und genbasierte Therapien zu beschleunigen. Dieser Trend bringt Patienten in Gefahr." In Zeiten des harten Wettbewerbs auf dem globalen Medizin- und Gesundheitsmarkt seien einige Regulierungsbehörden zunehmend nachgiebiger geworden.

"Wir sind jetzt kurz davor, wichtige genetische und andere Krankheiten mit Stammzellen behandeln zu können. Aber für viele Krankheiten sind weitere Belege erforderlich, insbesondere für die komplexeren polygenen und erworbenen degenerativen Erkrankungen. Wenn kritische wissenschaftliche Fragen der evidenzbasierten Umsetzung nicht adressiert werden, werden in der Folge Investitionen, Forschungsanstrengungen und Heilungsbestrebungen vergeudet", führt Cossu weiter aus.

Unethische Angebote von Wunderheilmitteln

Die Akademien weisen auch darauf hin, dass der Zweck der regenerativen Medizin darin besteht, Krankheiten zu bekämpfen, die bisher unheilbar sind. Dem Bericht zufolge sind z.B. kosmetische Anwendungen vorerst unangebracht.

"Bislang hat sich die regenerative Medizin nur bei wenigen spezifischen klinischen Indikationen bewährt, zum Beispiel bei Hautkrankheiten. Dennoch sehen wir eine zunehmende Zahl von Kliniken, die nicht der Regulierung unterliegen und auf der Basis schlecht gekennzeichneter Arzneimittel mit kaum nachgewiesener Wirkung eine breite Palette von Heilungsversprechen machen. Sie werben in der Regel über das Internet für ihre Dienstleistungen und sind primär an ihrem eigenen kommerziellen Erfolg interessiert", erklärt Dr. Robin Fears, EASAC Programmdirektor Biowissenschaften.

Die WissenschaftlerInnen fordern die EU daher dringend auf, dem Druck nicht nachzugeben und die PatientInnen an erste Stelle zu setzen. "Wenn Länder in ihrem Bestreben, nationale wirtschaftliche Interessen zu unterstützen, Regulierungsstandards senken, ist es umso wichtiger, dass die EU als bedeutender globaler Akteur die Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit in der Regulierung des Gesundheitswesens verteidigt", so Prof. ter Meulen. "Wissenschaftliche Forschung und Nachweise sind wichtiger denn je. Die EU und die nationalen Regulierungsbehörden sollten sich davor hüten, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft zu beeinträchtigen".