§ 116b SGB V
Die neue gesetzliche Regelung zum §116b SGB V umfasst insbesondere folgende Leistungen:
• Hochspezialisierte Leistungen (z.B. CT/MRT-gestützte schmerztherapeutische Leistungen),
• Schwere Verlaufsformen von Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen (z.B. onkologische Erkrankungen)
• Seltene Erkrankungen und Erkrankungszustände mit entsprechend geringen Fallzahlen (z.B. Mukoviszidose)
Mit der Anwendung des sogenannten Verbotsvorbehaltsprinzips, welches den raschen Zugang und damit auch die Erstattung neuer und innovativer Diagnostik- und Therapieverfahren ermöglicht, wird der bisher nur dem stationären Bereich vorbehaltene Grundsatz auf den neuen Versorgungssektor angewandt. Folglich können innovative Verfahren in der spezialfachärztlichen Versorgung grundsätzlich eingesetzt werden, sofern der G-BA diese Leistungen nicht ausdrücklich aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse ausgeschlossen hat.
Die Vergütung der ASV erfolgt auf Basis eines eigenen leistungs- und diagnosebezogenen Vergütungssystems (ambulantes Fallpauschalensystem), das durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) sowie den GKV-Spitzenverband (GKV-SV) zu entwickeln ist. In der Übergangsphase sind die Leistungen der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung nach dem EBM als Einzelleistungen ohne Mengenbegrenzung abzurechnen, wobei Krankenhäuser aus Gründen der Investitionsförderung im Rahmen der dualen Finanzierung einen fünfprozentigen Abschlag auf die EBM-Vergütung hinnehmen müssen. Die Abrechnung der Leistungen erfolgt direkt mit den Krankenkassen, die auch zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität verantwortlich sind. Eine Bedarfsplanung und Mengensteuerung innerhalb dieses neuen Versorgungssektors sind explizit nicht vorgesehen.
Vor- und Nachteile aus der Perspektive der Leistungserbringer
Ausgehend von einer Stärken-Schwächen-Analyse können für die beiden unterschiedlichen Leistungsbereiche jeweils spezifische Merkmale ermittelt werden, die zu Vor- aber auch Nachteilen der in diesem neuen Versorgungssektor spezialfachärztlich tätigen Leistungserbringer führen können (siehe Abb. 2). So bestehen beispielsweise für die Vertragsärzte Probleme darin, im Gegensatz zu den Krankenhäusern eine „rund um die Uhr Versorgung“ anbieten zu können. Ein Vorteil hingegen liegt in der persönlichen Leistungserbringung und dem daraus resultierenden festen Patientenstamm. Für die Krankenhäuser bedeutet eine ambulante Leistungserbringung oftmals eine organisatorische, aber auch infrastrukturelle Herausforderung, da der Klinikalltag überwiegend durch stationäre Behandlungsabläufe geprägt ist. Andererseits verfügen Krankenhäuser, die den Status eines §116b-Vertrages in der Vergangenheit schon erworben haben, bereits über einen längeren Erfahrungshorizont im Umgang mit diesem neuen Leistungssektor.
Kompromiss bei umstrittenen Kritikpunkten
Obwohl eine Novellierung des §116b-Paragraphen von fast allen Akteuren grundsätzlich positiv gesehen wurde, gab es nach der ersten Lesung im Bundestag sowie dem ersten Durchgang im Bundesrat weiterhin gravierende Kritikpunkte und divergierende Zielinteressen zwischen Bund und Ländern bei der Ausgestaltung dieses Versorgungssektors; bis hin zur Forderung des Bundesrates, die spezialfachärztliche Versorgung ganz aus dem GKV-VStG herauszunehmen und in einem eigenen Gesetz zu regeln, da die Länder ganz offensichtlich einen Kompetenzverlust und Beschränkung der Einflussnahmemöglichkeiten insbesondere bei der Krankenhausplanung befürchteten. Im Wege der Kompromissfindung wurden daher im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses folgende wichtigen Regelungsdetails noch zusätzlich beschlossen:
Europapolitischer Stellenwert der ASV
Mit der Novellierung des §116b SGB V und der damit einhergehenden spezialfachärztlichen Versorgung folgt Deutschland schließlich einer europäischen Entwicklung, die in anderen EU-Mitgliedsstaaten bereits praktiziert wird. Gleichzeitig wurde im März dieses Jahres eine EU-Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung verabschiedet, um damit einen europaweit einheitlich geltenden Rechtsrahmen zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung zu schaffen. Laut der Richtlinie muss – im Gegensatz zu ambulanten Behandlungen ohne Übernachtung – bei „hochspezialisierten und kostenintensiven“ Leistungen, eine Vorabgenehmigung des Kostenträgers eingeholt werden. Welche Leistungen unter diese neue EU-Regelung fallen, obliegt dem nationalen Gesetzgeber.
Aus deutscher Sicht wäre damit künftig die Frage zu beantworten, ob der gesamte §116b-Leistungskatalog diesem Genehmigungsvorbehalt ausgesetzt oder ob beispielsweise eine vorab definierte Jahrestherapiekostengrenze als mögliche Entscheidungsregel herangezogen wird.
Industriepolitische Bewertung und Ausblick
Zur Behandlung komplexer Krankheitsbilder und als Reaktion auf eine Dynamisierung der Leistungsentwicklung stellt die Novellierung des §116b SGB V und die Schaffung eines neuen spezialfachärztlichen Versorgungssektors einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar, die Schnittstellenproblematik zwischen ambulanter und stationärer Versorgung nachhaltig zu überwinden. Als positives Hauptaugenmerk lässt sich aus Industrieperspektive der direkte und rasche Zugang zu innovativen Diagnostik- und Therapieverfahren aufgrund des angewandten Verbotsvorbehalts hervorheben. Das wiederum unterstützt die Generierung von validen Daten unmittelbar aus der ambulanten Versorgung und ermöglicht im Rahmen der Versorgungsforschung neue Erkenntnisgewinne. Dazu lassen sich aus der gesetzlichen Regelung weitere Punkte unterstreichen, die positiv auf das Gesamtsystem wirken:
Trotz einer positiven Grundhaltung zu der vorgesehenen gesetzlichen Regelung dürfen folgende kritische Punkte nicht aus dem Blickfeld geraten:
Mit der Etablierung der spezialfachärztlichen Versorgung im Rahmen des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes wird eine neue strukturpolitische Maßnahme verfolgt, die sich wohltuend von vielen anderen Regelungen abhebt. So sehr der Grundgedanke breite Unterstützung erfahren sollte, gibt es bei der konkreten Umsetzung in die Versorgungspraxis noch eine Fülle wichtiger Detailfragen zu klären, die im Rahmen dieses Gesetzgebungsprozesses schon aus zeitlichen Gründen überhaupt nicht auf der Agenda standen. Umso mehr kommt es folglich darauf an, dass die weiteren Implementierungsprozesse zügig ausgestaltet werden.
Dem Gemeinsamen Bundesausschuss kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, ob und mit welcher Qualität dieser neue Versorgungssektor sich etablieren wird. Der erforderliche Strukturwandel im deutschen Gesundheitswesen ist unabdingbar, wenn man den Anschluss an den medizinischen Fortschritt nicht verlieren möchte. Aber auch im europäischen Kontext wird der Aspekt der grenz-überschreitenden Gesundheitsversorgung sich zunehmend auf die Angebotsqualität des deutschen Gesundheitswesens auswirken. Der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung ist daher aus vielerlei Gründen eine große, aber auch positive Aufmerksamkeit zu schenken. <<
Zur Entstehungsgeschichte der ASV
Der enorme medizinische Fortschritt hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass traditionell stationär durchgeführte Behandlungsmaßnahmen zunehmend im Rahmen ambulanter Leistungsstrukturen durchgeführt werden können. Von Seiten des Gesetzgebers gibt es daher schon langjährige Reformbestrebungen, diese historisch gewachsenen sektoralen Grenzen zwischen ambulant und stationär weiter zu entwickeln und den „Einstieg in eine ärztliche Versorgung ohne Sektorengrenzen“ als erklärtes politisches Ziel zu verfolgen. Bisherige und auch parteiübergreifende Bemühungen der Legislative zur Überwindung der Sektorengrenzen haben zwar ein differenziertes, aber strukturpolitisch dennoch einseitiges Leistungsangebot zu Gunsten einer Öffnung der Krankenhäuser hervorgebracht:
• Ambulantes Operieren (§115b SGB V) und
• Ambulante Versorgung am Krankenhaus (§116b SGB V).
Auch die Bemühungen zur Verbesserung von Behandlungsabläufen im Sinne der integrierten Versorgung haben im Ergebnis nicht zu einer nachhaltigen Überwindung der starren Sektorengrenzen geführt. Ganz im Gegenteil: Komplexität und Intransparenz des Systems wurden verstärkt. Dem Trend zur Dynamisierung der Leistungsentwicklung steht nach wie vor eine gelebte Sektorentrennung gegenüber, die weder ökonomisch noch versorgungspolitisch zu rechtfertigen ist. Dazu ist eine Über-, Unter- und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen trotz vorhandener Bedarfsplanung im ambulanten und stationären Bereich seit Jahren nachweislich existent. Quo vadis Reformpolitik?
Autor:
Roger Jaeckel ist Leiter Gesundheitspolitik bei GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG
Dipl. Verw.wiss., European Master in Social Security, Lehrbeauftragter der Hochschule Neu-Ulm.
Kontakt: roger.r.jaeckel@gsk.com.
Das Gespräch führte Jutta Mutschler, leitende Redakteurin „MA&HP“.
]]><< De facto gibt es diesen 4. Sektor bereits seit Jahren, er ist sowohl vom ambulanten, wie auch stationären Bereich betrachtet, die Speerspitze der medizinischen Entwicklung. >>
niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eine ausgezeichnete Versorgung leisten“, so sein Rundschreiben an rund 5.000 KVB-Mitglieder. Diese müssen nun trotz oft schwerer Prüfung und erheblichen Investitionen das Qualitätssiegel aus den Praxen und Internetseiten entfernen. Unser Verband will aber nicht alle Ärzte über einen Kamm scheren und entsprechend vergüten. In einer demokratischen Wettbewerbsgesellschaft mit circa 80 Millionen Pflichtversicherten muss sich auch die Ärzteschaft dem Qualitätswettbewerb stellen, zum Segen unserer Patienten. Unser Verband wird mit Augenmaß diese - doch eigentlich Selbstverständlichkeit - von seinen Mitgliedern fordern. Die Mitgliedschaft ist ja freiwillig.
Und nun die Glaubensfrage: Glauben Sie denn wirklich, dass ein Ambulant-, um nicht zu sagen hausarztzentriertes System wirklich das bessere, das zukunftsfähigere ist? Und das, obwohl es weltweit, wie Prof. Dr. Glaeske in MVF 06/11 betonte, „keine Evidenz dafür gibt, dass ein allgemein oder hausarztzentriertes System wirklich das bessere“ wäre?
Die Funktionen des Hausarztes sind je nach Ausbildung und Standort der Praxis - in der Stadt oder auf dem Land - total unterschiedlich und deshalb mit Evidenzmaßstäben schwer zu messen oder auch nur vergleichbar. Entsprechend unwirksam oder wirksam ist die HZV. Auch haben die Gebührenordnung und die Facharzt-Dichte in Großstädten die Tätigkeiten vieler Hausärzte stark verändert. Es tut mir weh, wenn Tätigkeiten wie Überweisungen und Krankschreibungen die wirklich ärztliche Arbeit oft und nicht nur temporär an den Rand drängen.
Wie soll sich Ihr neuer Verband denn positionieren? Wie wollen Sie mit Kassen oder auch der Industrie kooperieren?
Wir wollen niemanden ausgrenzen, sondern mit allen ärztlichen Gruppierungen ambulant und stationär kooperieren - vorausgesetzt, dass sie unsere an uns selbst gestellten Qualitätsanforderungen akzeptieren und unterstützen. Es ist doch ein Gewinn für Hausärzte und versorgende Fachärzte, wenn sie wissen, welcher Spezialist ausgezeichnete Arbeit leistet. Die Patienten kommen dann erfreut und gesund zum Überweiser zurück. Die Satzung lädt auch Unternehmungen aller Art - Institutionen oder gar Körperschaften - zur „außerordentlichen“ Mitgliedschaft ein. Sie können unsere ärztliche Betrachtungsweise positiv bereichern. Ich bin schon gespannt, ob und wann sich eine Krankenkasse zu unserem Einsatz für mehr Qualität bekennt und außerordentliches Mitglied wird - zum Vorteil ihrer Versicherten. Es würde mich nicht wundern, wenn ein Aufschrei der bayerischen Krankenkassen, die bereits viel Geld für die vertraglich vereinbarten Qualitätsprogramme der „Ausgezeichneten Patientenversorgung“ bezahlt haben, die öffentliche Meinung aufschreckt. <<
Fehlende Harmonisierung
Nicht die operativen Fragestellungen, wie das AMNOG umgesetzt oder weiterentwickelt werden könnte, standen bei Monika Fenzau, zuletzt tätig bei Bristol-Myers-Squibb, im Mittelpunkt ihres Vortrages. Sie wollte einen Blick - „um in Fußballersprache zu sprechen“ in die nächste oder übernächste Saison werfen. Gleich zu Beginn des Referates machte sie deutlich, dass sie der Nutzenbewertung sehr positiv gegenüberstehe. „Denn auch als Bürgerin und Konsumentin ist für mich eine Nutzenbewertung eigentlich völlig selbstverständlich.“ Beim Kauf eines neuen Kühlschrankes wolle sie schließlich auch wissen, was der Neue besser könne als der Alte und worin sie sich unterscheiden. „Deshalb von meiner Seite aus und ich bin da gar nicht so alleine in der Industrie - ein eindeutiges Ja zur Nutzenbewertung von Innovationen per se“, so Fenzau. Um danach gleich festzustellen: „Aber bitte nicht so.“
Heutzutage gäbe es ein zweistufiges Evaluationsverfahren, nämlich zunächst einmal die europäische Zulassung von neuen Wirkstoffen. „Das heißt die Sicherheit und Wirksamkeit von Wirkstoffen wurde entsprechend geprüft.“ Dazu kämen in den vielen Nationalstaaten nachgelagerte Nutzenbewertungen, zum Teil auch explizite Kosten-Nutzen-Bewertungen. Aufgrund fehlender Harmonisierung im Hinblick auf Datenquelle, Studiendesign oder Methodik ergeben sich teils „kuriose“ und völlig unterschiedliche Ergebnisse.
Das wiederum führe zu erheblicher Verunsicherung nicht nur bei den Herstellern, sondern auch bei den Patienten und nicht zuletzt den politischen Verantwortlichen in den einzelnen Ländern. „Diese Form von Ergebnissen kann nicht die Zukunft sein“, erklärte Monika Fenzau. Ihre Lösung: Harmonisierung. „Meine Botschaft lautet hier, dass wir Nutzenbewertungen zeitlich parallel laufen lassen müssen zur Zulassung.“ Harmonisierung müsse hinsichtlich Datenquellen, Studiendesign und Methodik im Hinblick auf die Nutzenbewertung erfolgen. So könne schließlich auch gewährleistet werden, dass Arzneimittel nicht „nur“ gegen Placebo getestet würden, sondern tatsächlich auch gegen eine angemessene, nachvollziehbare Therapiealternative. Mit anderen Worten: „Würde man es parallel laufen lassen, dann kommt ein neuer Wirkstoff nicht nur mit einer europäischen Zulassung auf den europäischen Markt, sondern auch gleich im Hinblick auf den Zusatznutzen zur Vergleichstherapie.“
Doch nicht nur bei der zeitlichen Herangehensweise, sondern auch beim Verfahren selbst sieht Fenzau Verbesserungspotenzial. Ihrer Ansicht nach sollten sich die einzelnen nationalen HTA-Agenturen auf Wirkstoffe bewerben, die sie überprüfen. „Die dort gefundenen Ergebnisse gelten dann für den gesamten europäischen Raum.“
Konsequente Delegation
Kritik übte Monika Fenzau auch beim Thema Preisfindung innerhalb des AMNOG-Verfahrens. „Warum muss der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen einen Preis verhandeln?“ Sie habe in letzter Zeit Gespräche mit dem ein oder anderen einflussreichen Repräsentanten der GKV geführt und nachgefragt, wie sie es fänden, dass der GKV-Spitzenverband helfe, die Preise mit der Industrie zu verhandeln. Die Reaktionen seien durch die Bank gleich gewesen: Alle befragten Repräsentanten forderten das Verhandlungsmandat für sich.
Deshalb laute ihre Botschaft auch: Konsequente Delegation von Verhandlungsautonomie nach unten. Laut Fenzau berge die Delegation folgende Vorteile: Erstens könne sich der Arzt auf seine Kernkompetenz konzentrieren und wäre aus der ökonomischen Verantwortung komplett entlassen. „Denn die ökonomische Verantwortung von innovativen Arzneimitteln ist dann in die Hände derer delegiert, in die sie gehört - nämlich Hersteller und Zahler.“
Die Delegation der Verhandlungskompetenz an Hersteller und Krankenkasse hätte darüber hinaus auch Auswirkungen auf das internationale Reference-Pricing, das sich am deutschen Markt orientiere. „Dadurch, dass das AMNOG diesen Effekt des Reference-Pricings völlig ignoriert, in dem es einen Verhandlungspreis in die Lauer-Taxe schreibt, kann es eben zu einem Kellertreppeneffekt führen“, so Fenzau. Würde die Verhandlungskompetenz aber an Krankenkassen delegiert werden, wären das Verträge zwischen gleichberechtigten Partnern, deren Inhalte in der Regel nicht den Weg in die Öffentlichkeit finden. „Somit wird das Thema internationales Reference-Pricing gar nicht erst zum Problem“, erklärte Monika Fenzau abschließend.
Einen Blick in die berühmte Kristallkugel wagte Prof. Dr. Dr. Alexander Ehlers (Rechtsanwaltssocietät Ehlers, Ehlers & Partner) mit seinem Vortrag „Health Care Fraud in Deutschland - Drohen der pharmazeutischen Industrie amerikanische Verhältnisse?“ Um die Brisanz des Themas zu verdeutlichen, berichtete Ehlers zunächst über die Entwicklungen in den USA.
Es sei dahingestellt, ob das Gesundheitssystem in den USA das teuerste sei oder nicht. Tatsache sei jedoch, dass die strukturelle Korruption in den USA längst zur Nummer eins der Wirtschaftskriminalität geworden sei. „Mindestens 3 bis 10 Prozent des gesamten Gesundheitsbudgets gehen durch Straftaten, sogenannte Health Care Frauds, verloren“, so Ehlers. Dies sind schätzungsweise ca. 80 Milliarden Euro - eine Summe, die im Hinblick auf die Versorgung der Bevölkerung vergeblich investiert werde. Die kriminogenen Faktoren, die in den USA eine Rolle spielten, seien durchaus auch in Deutschland zu finden: „Das sind fehlende Transparenz, falsche Systeme zum Anreiz und letztendlich wird es dem Straftäter leicht gemacht, das System zum eigenen Vorteil auszunutzen.“
In den USA werden laut Ehlers von den Arzneimittelherstellern regelmäßig bis zu dreistellige Millionenbeträge gezahlt, um zivil- und strafrechtliche Verfahren zu beenden. Das Problem seien falsche Informationen. Beispielsweise „aufgeblähte durchschnittliche Großhandelspreise“. Bei einem Hersteller, der falsche Großhandelspreise angibt und damit letztendlich einen Dritten dadurch schädigt, spreche man nicht von zivilrechtlich auszugleichenden Schadenersatzforderungen, sondern von kriminellem Verhalten.
Problem sind falsche Informationen
Auch die „Manipulation des nominellen Preises“ könne in den USA Strafverfahren nach sich ziehen. Ebenso müssten nach der Bestimmung des Best Price auch Kosten bzw. Kostenvergünstigungen für privates Etikettieren, Umverpacken und Umetikettieren eingerechnet werden.
Zwar existierten keine genauen Zahlen zu den tatsächlichen Schäden durch Betrug und Manipulation für das deutsche Gesundheitssystem. „Nach Expertenansicht entsteht dem Gesundheitssystem in Deutschland ein jährlicher Gesamtschaden in Höhe von 13,5 Milliarden Euro“, führte Ehlers aus. Das enstpreche knapp 6 Prozent der Gesamtausgaben. Wie tragfähig die Zahlen letztendlich seien, könne er nicht beurteilen. „Doch egal wieviele Euros verschwendet werden, es sind Gelder, die bei knappen Ressourcen einfach bei der Versorgung fehlen.“
Die Frage müsse nun lauten: Könnten diese amerikanischen Verhältnisse auch auf Deutschland übertragen werden? „Wenn ich eine Prognose wage und den Blick in die Glaskugel werfe, dann sage ich Ja“, erläuterte Ehlers. Zwar gebe es keine direkte Übertragbarkeit, da die Rechtssysteme sehr verschieden seien. „Aber man beachte den Paradigmendwechsel“, mahnte der Rechtsexperte. Haben die Hersteller früher die Arzneimittelpreise für Innovationen selbst festgelegt, erfahre die Preisbildung durch das AMNOG eine gravierende Änderung, „denn erstmals wurden Mitteilungspflichten eingeführt“. Verletzung der Mitteilungspflicht wäre beispielsweise gegeben, wenn Angaben des Herstellers gegenüber dem G-BA bei der frühen Nutzenbewertung, insbesondere in Verhandlungen mit dem Spitzenverband Bund oder dem anschließenden Schiedsamtsverfahren, falsch sind.
Darüber hinaus könne er Monika Fenzau bei ihrer Forderung nach Harmonisierung bei der europäischen Nutzenbewertung nur zustimmen. „Ich glaube, dass es bei der frühen Nutzenbewertung noch sehr viel Diskussionsbedarf gibt“, so Ehlers, „denn eine Vielzahl an Rechtsproblemen ist noch offen.“ <<
Retroaktive Wirkung
Ob es viele von diesen Verträgen geben wird, stellt Sträter mal dahin; auf jeden Fall wird es den Raum dafür geben, den es bisher so nicht gab. Und dann auch noch den Freiraum, endlich über einen einzigen Sektor und insbesondere über die recht monokausale Betrachtung der Arzneimittelkosten hinaus argumentieren zu können. Denn im Zuge der zur frühen Nutzenbewertung einzureichenden Dossiers findet die noch nicht statt, wie Sträter weiter ausführte: „Wenn im Dossier gefordert wird, Angaben zu Ausgaben in der GKV zu machen, ist hier nicht die sektorübergreifende Dimension gemeint.“
Der Schiedsspruch wird wohl nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel werden. „Wir werden mehr Verfahren bekommen als wir bislang alle annehmen“, sagt Sträter. Denn, dass sich alle nach sechs Monaten einigen, „weil sie auf einmal zu höheren Einsichten gelangt sind“, sei ja nicht unbedingt zu erwarten.
Wichtig sei aber zu wissen, dass dieser Schiedsspruch retroaktiv funktioniert, da dieser auf den Beginn des 13. Monats nach dem ersten Inverkehrbringen des betreffenen Produkts zurückwirkt. Das sei auch wichtig für all die Produkte, die von der 6-Monats-Frist profitiert haben, indem sie das Dossier nicht gleich, sondern erst Mitte des Jahres einreichen mussten. „Die Unternehmen werden realisieren müssen“, so Sträter, „dass diese Jahresfrist berechnet wird auf den Zeitpunkt des ersten Inverkehrbringens. Sträter: „Wenn also Ende 2012 der Schiedsspruch kommt, wirkt der auf Januar 2011 zurück.“ Das sei auch wichtig für Rückstellungen.
Die kann das Unternehmen am besten gleich weltweit zurücklegen, denn am Ende des Verfahrens wird bekanntlich der so genannte „Erstattungsbetrag“ festgelegt. Dieser Begriff ist nach Sträter irreführend, weil damit suggeriert wird, dass der Unternehmer damit - ähnlich wie bei einem Rabattvertrag - eine Erstattung an die Kassen gewährt. Doch weil der Gesetzgeber das System auch auf die PKV erstrecken wollte, wurde eingeführt, dass die Erstattung bei Abgabe zu gewähren ist. Mit dem Effekt, dass künftig nach Sträters Wissen in der Lauer-Taxe zwei Preise genannt werden: ein Listenpreis und ein Abrechnungspreis. Sträter: „Wenn das so ist: Dann machen wir uns doch nichts vor, welcher Preis wohl für die Referenzpreiswirkung des gelisteten Arzneimittels herangezogen wird?“
Da Deutschland auf 30, wohl aber sogar auf 82 Länder referenziere, sei das „Deutschlands Beitrag zur weltweiten Kostensenkung im Gesundheitswesen“. <<
Vier grundsätzliche Fragen zu klären
Vor der Erstellung des Dossiers müssten zunächst vier grundsätzliche Fragen geklärt werden. Frage Nummer eins lautet: „Welcher Hersteller wird als erstes aufgefordert?“ Daran anknüpfend folgt die Frage, ob ein Beratungsgespräch mit dem G-BA geplant sei. Drittens welches Bewertungsergebnis beziehungsweise welcher Zusatznutzen erwartet werde. Und zuletzt: „Ist eine Stellungnahme zur eigenen Bewertung geplant? Und wie werden die Wettbewerber Stellung beziehen?“ Diese Fragen sollten vor der Erstellung geklärt werden, „um einen roten Faden in die Argumentationskette zu bekommen“.
Vor der endgültigen Einreichung sollte das Dossier unbedingt nochmals auf die Qualität bestimmter Aspekte hin überprüft werden, wie zum Beispiel die Vollständigkeit der Studien, Abgleich mit rechtlichen Vorgaben, inhaltliche Konsistenzkontrolle, Prüfung der Orthografie und last but not least: „Spiegeln sich die Corporate-Identity-Vorgaben des Unternehmens auch im Dossier wider?“
Ein entscheidendes Problem bei der Erstellung der Dossiers liegt nach Einschätzung von Thomas Ecker im vorgegebenen zeitlichen Rahmen: „Ohne Qualitätsverlust ist die Erstellung des Dossiers kaum schneller als in 20 Wochen zu bewerkstelligen.“ Die 12-Wochen-Frist halte er für eher unrealistisch. Die Erstellung eines Dossiers gliedere sich in vier Phasen: Scoping Workshop, Erstellung des Argumentationsgerüstes, First Draft und dann schließlich die Finalisierung und Kontrolle. „Im Scoping Workshop werden zentrale Fragen im Projektteam abgestimmt“, so Ecker. Fragen wie „Was sind die relevanten Eckpunkte?“, „Wie viele Patienten sind zu erwarten?“ und „Was ist die zweckmäßige Vergleichstherapie?“ müssten in dieser Phase geklärt werden. „Das Argumentationsgerüst fasst im Anschluss die wesentlichen Fakten für den Nachweis des angestrebten Zusatznutzens konsistent zusammen.“ In der dritten Phase werde die Evidenz für den Nutzennachweis als Textdokument aufbereitet und schließlich erfolge dann die Qualitätskontrolle. Ecker mahnte die Zuhörer, insbesondere auch auf die Vollständigkeit der Daten im Dossier zu achten. „Denn alles was fehlt, kann im Zweifel gegen Sie verwendet werden.“
18 Kostendämpfungsgesetze in 20 Jahren
In seinem Vortrag „Innovative Direktverträge - Positionen der Pharmaunternehmen“ warf Dr. Bernd Wegener, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands der pharmazeutischen Industrie (BPI), einen Blick zurück auf die unternehmerischen Herausforderungen der letzten zwei Jahrzehnte aus Sicht der pharmazeutischen Unternehmen. „Wenn wir bis ins Jahr 1990 zurückgehen, so hatten wir in der Zeit insgesamt 18 Kostendämpfungsgesetze.“ Weitere Regulierungen kamen durch Festbeträge, Erstattungsausschlüsse bei der Selbstmedikation, Einführung der Rabattverträge oder Steuerung des Verschreibungsverhaltens durch Budgetierung.
Bei den Selektivverträgen stellten die Rabattverträge einen „dominaten Vertragstyp“ dar. Den Zahlen nach sind die Rabattverträge ein Erfolgsmodell“, sagte Wegener. „Mit Stand April 2010 gab es 12.211 Rabattverträge, an denen 116 Krankenkassen und 141 pharmazeutische Unternehmer beteiligt waren.“ Das Gros der Rabatte betraf dabei Generika, die mit einem Festbetrag belegt waren. Die Einschätzung, dass mit dem AMNOG selektivvertragliche Möglichkeiten nach den §§ 130 b, 130 c sowie 140 b gestärkt würden, kann Wegener nicht teilen. Im Gegenteil: „Meiner Ansicht nach haben wir eher verminderte Verhandlungsspielräume.“ Die Anhebung der gesetzlichen Herstellerabschläge von 6 auf 16 Prozent für verschreibungspflichtige Arzneimittel ohne Festbetrag sowie das Preismoratorium, das bis zum 31.12.2013 gilt, nannte der BPI-Vorsitzende als Gründe. Darüber hinaus erwarte er eine zusätzliche Einschränkung durch die vorgeschalteten zentralen Verhandlungen über den Erstattungsbetrag nach § 130 b SGB V. Zwar sei die Weiterentwicklung noch schwer vorhersehbar. „Aber der Impuls für selektive Vertragsoptionen ist eher fraglich“, so Wegeners Resümee. <<
Autorin: Jutta Mutschler
Keine „Eminenzposition“ mehr
Dabei kommt es allerdings immer darauf an, wie man das macht. Und gerade hier kam seitens der Pharmaindustrie als auch der deutschen Gesundheitsökonomen harsche Kritik. Doch hier kann Windeler beruhigen, wenn er sagt, dass das IQWiG zwar nach wie vor auf den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin bestehe, aber deswegen noch lange keine „Eminenzposition“ einnehme. Vielmehr würden Arzneimittel in einer frühen Phase des Markteintritts nach Gesetz und Verordnung nach international anerkannten Maßstäben und Standards bewertet. Nicht zugelassen werde daher eine „deutsche Lehrmeinung“, die außer eines guten Willens für bestimmte Situationen leider keine Studien vorzuweisen habe. Um klar zu machen, was jenen dräuen könnte, die nach entsprechenden Auflagen seitens des G-BA nach einem festgelegten Zeitraum keine ausreichende Studienlage vorweisen können, verweist er auf den dann möglichen Ausschluss aus der Verordnung.
Das AMNOG ist der Einstieg in die systematische Nutzenbewertung von neu in den Markt kommenden Arzneimitteln und solchen mit Zulassungsänderungen. Damit kann (siehe Gespräch mit Erik Meinhardt, dem Direktor Market Access von MSD) die Industrie durchaus leben. Weniger wohl mit dem, was das Gesetz als „Kollateralnutzen“ auslöst: „Das Ziel dieses Einstiegs ist die Preisfestsetzung als ein Verhandlungsergebnis zur Reduzierung eines ursprünglich geforderten Marktpreises.“ Wichtig sei vor allem, dass mit der Veröffentlichung der Ergebnisse und der Berichte des IQWiG inklusive aller relevanter Unterlagen sowie der Veröffentlichung der Beschlüsse des G-BA völlig unabhängig von einer nachfolgenden Preisverhandlung eine ganz neue Informationsmöglichkeit für Ärzte und Patienten geschaffen werde, die es in dieser Form und in dieser Systematik für neue Arzneimittel so frühzeitig nicht einmal im Ansatz gegeben habe. Windeler: „Ich gehöre zu denen, die der Auffassung sind, dass dieses völlig unabhängig von der ganz am Ende stattfindenden Preisfestsetzung zwischendurch schon Einflüsse auf die Verordnung haben wird.“ Und ebenso auf die internationalen Referenzpreise. Denn weil die verhandelten Preise nicht nur für das GKV- sondern auch für das PKV-System gelten sollen, wird jeder Verhandlungspreis gleichzeitig Referenzpreis. <<