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Einsatz von Psychopharmaka hochbedenklich

03.02.2021 10:16
Rund 30 Prozent aller demenzerkrankten männlichen hkk-Versicherten bekamen im Zeitraum eines Jahres mindestens einmal ein Psychopharmakon verordnet, obwohl diese Medikamente bei Menschen mit Alzheimerdemenz mehr schaden als nutzen. Dabei handelt es sich größtenteils um Neuroleptika, die üblicherweise bei Schizophrenie und Psychosen angewendet werden. Das ist das Ergebnis des aktuellen Demenzreports der Universität Bremen unter der Leitung des Arzneimittelexperten Prof. Gerd Glaeske in Kooperation mit der hkk Krankenkasse, der Ende November 2020 präsentiert wurde.

Die Neuroleptika-Fehlversorgung belastet männliche und weibliche Patienten in ähnlicher Weise. Die Analysen zeigen, dass der prozentuale Anteil der betroffenen hkk-Versicherten mit Neuroleptika-Verordnungen über die Jahre insgesamt sogar angestiegen ist. Unterschiedliche Psychopharmaka und Schlafmittel, vor allem Neuroleptika und Benzodiazepine, werden laut Glaeske zusammengenommen deutlich häufiger verordnet als Antidementiva. Diese sollten trotz mancher Zweifel an ihrer Wirksamkeit jedoch bevorzugt eingesetzt werden, um die Chance zu erhöhen, das Fortschreiten der Demenz zu verlangsamen.
„Es gibt keinen Grund, Demenzerkrankte mit konventionellen Neuroleptika zu behandeln, da nicht belegt ist, dass diese Medikamente Verhaltensstörungen bei den Betroffenen positiv beeinflussen“, sagte Glaeske bei der Vorstellung des Reports.

Darüber hinaus verdichteten sich seit einigen Jahren die Hinweise, dass Neuroleptika bei Demenzerkrankten schwerwiegende unerwünschte Folgen, wie etwa Herzinfarkt, Schlaganfall sowie Lungenentzündung, haben können und mit einer insgesamt erhöhten Sterblichkeit zu rechnen ist. Die noch immer häufige Verordnungsei auch deshalb besorgniserregend, weil die Zulassungsbehörden und auch die pharmazeutischen Unternehmen die Ärzt*innen schon vor mehr als zehn Jahren auf das erhöhte Sterberisiko hingewiesen haben.

Würde aufrechterhalten

Außerdem könnten Neuroleptika bei Ruhelosigkeit und sogenanntem herausfordernden aggressiven Verhalten von Demenzpatient*innen möglicherweise zu einem rapiden Verfall der kognitiven Leistungsfähigkeit beitragen. Glaeske: „Eine kurzfristige Anwendung ist lediglich dann vertretbar, wenn die Betroffenen ohne entsprechende Medikation eine unbeherrschbare Gefährdung für sich oder andere sind.“

Die Bremer Hausärztin und Geriaterin Heike Diederichs-Egidi gab im Rahmen der Vorstellung des Demenzreports einen Einblick in die immensen Belastungen von Angehörigen und Pflegekräften: „Es ist für alle extrem belastend, wenn ein dementes Familienmitglied jede Nacht Kinder und Eltern aufweckt. Die Kinder schlafen in der Schule ein und die Eltern sind praktisch arbeitsunfähig. Da befinde ich mich als Hausärztin in einer Zwickmühle – wem werde ich jetzt wie gerecht und wessen gesundheitliches Risiko schätze ich höher ein?“ Natürlich verschreibe sie dann zunächst Neuroleptika, damit sich die Situation entschärft. Denn die gesundheitlichen Belastungen seien auch für pflegende Angehörige und Pflegekräfte enorm. „In den Pflegeheimen kommt der Personalmangel hinzu – diese Situation erlebe ich zunehmend als unwürdig.“ Gleichwohl lehne auch sie die längerfristige Verordnung von Neuroleptika ab.

Glaeske forderte angesichts der Situation, dass Verhaltensstörungen bei Demenz vorrangig durch eine Optimierung der Pflegesituation, ein gezieltes Training von Alltagsfertigkeiten oder durch milieutherapeutische Maßnahmen wie Ergotherapie behandelt werden. „Das Wichtigste ist, für die Erkrankten so lange wie möglich ihre Würde sowie ihre Alltagsfähigkeiten aufrechtzuerhalten und ihnen Erinnerungen aus ihrer früheren Lebenszeit zu bewahren. Die immer noch weit verbreitete Verordnung von ruhigstellenden Mitteln bei Menschen mit Demenz ist langfristig keine akzeptable Strategie“, erklärte der Arzneimittelexperte. „Insgesamt sollten zudem die sich mehrenden Hinweise auf Präventionsmöglichkeiten zur Verringerung der Alzheimerdemenz berücksichtigt werden – Bewegung, Ernährung, Kommunikation und Beschäftigungsmöglichkeiten gehören dazu.“ Diederichs-Egidi empfahl neben den von Glaeske erwähnten Möglichkeiten die Verwendung von Biografiebögen und auf die jeweilige Person zugeschnittene Beschäftigungsangebote in Pflegeheimen, um den individuellen Bedürfnissen und Erfahrungen der Patient*innen gerecht werden zu können.

Ausgabe 01 / 2021