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Immer mehr Psychotherapie für Kinder

04.05.2021 18:05
Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland sind in psychotherapeutischer Behandlung. Innerhalb von elf Jahren hat sich die Zahl der jungen Patientinnen und Patienten mehr als verdoppelt. Das geht aus dem aktuellen Arztreport der Barmer hervor, der Anfang März in Berlin vorgestellt wurde. Demnach benötigten im Jahr 2019 rund 823.000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe, 104 Prozent mehr als im Jahr 2009. Die Corona-Pandemie samt strikter Kontaktbeschränkungen dürfte nach Einschätzung der Experten die Situation noch ein Stück weit verschärfen. Bei Barmer-versicherten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis einschließlich 24 Jahren stiegen die Zahlen für die Akutbehandlung sowie die Anträge etwa für die erstmalige Therapie und deren mögliche Verlängerung im Jahr 2020 um sechs Prozent auf mehr als 44.000 im Vergleich zum Vorjahr.

„Psychische Probleme können für Kinder und Jugendliche ernste Folgen haben. Deshalb ist es wichtig, auf ihre Alarmsignale zu achten. Zeitnahe Hilfe und Prävention können viel dazu beitragen, dass psychische Probleme erst gar nicht entstehen oder sich verstetigen und zu einer psychischen Erkrankung führen“, erklärte Prof. Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer, bei der Vorstellung der Publikation.

Aus dem Arztreport gehe weiter hervor, dass es deutliche regionale Unterschiede bei der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen gebe. Am größten war im Jahr 2019 demnach der Bedarf in Berlin mit 5,19% aller Kinder und Jugendlichen, gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Hessen. Den geringsten Anteil verzeichnete laut Report Mecklenburg-Vorpommern mit 3,33% aller jungen Menschen. Allerdings war hier die Steigerungsrate bei der Inanspruchnahme seit dem Jahr 2009 mit 239 Prozent am größten, gefolgt von Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Die niedrigste Steigerungsrate verzeichnete Bremen mit 52%.

„Psychotherapeutische Leistungen für Kinder und Jugendliche nehmen in allen Bundesländern immer mehr zu. Hier gibt es vor allem in den Bundesländern hohe Steigerungsraten, in denen der Abstand zum Bundesschnitt besonders groß war“, führte Prof. Dr. Joachim Szecsenyi, Autor des Arztreports und Geschäftsführer des aQua-Instituts in Göttingen, aus. Damit seien die regionalen Unterschiede bei der Inanspruchnahme bis zum Jahr 2019 zwar verringert, aber nach wie vor erheblich und rein medizinisch nicht erklärbar. Hier seien weitere Analysen erforderlich.

Eltern, Bezugspersonen, Kinder- und Jugendärzt*innen sowie ärztliche und psychologische Psychotherapeut*innen müssten im Sinne der betroffenen Kinder und Jugendlichen möglichst eng zusammenarbeiten, forderte Straub. Eine enge Kooperation sei während der Corona-Pandemie wichtiger denn je. Gerade jetzt seien die Kinder und Jugendlichen stark psychisch belastet. „Die Corona-Pandemie hinterlässt besonders bei den jungen Menschen Spuren, die ohnehin schon psychisch angeschlagen sind. Hier ist eine schnelle und unkomplizierte Hilfe besonders wichtig“, sagte Straub. Die Barmer biete dies zum Beispiel über ihr Kinder- und Jugend-Programm (KJP), bei dem derzeit fast 580.000 Kinder und Jugendliche eingeschrieben seien. Das KJP beinhalte mehrere Extra-Vorsorgeuntersuchungen, die weit über den Leistungen der Regelversorgung lägen.

Trotz diverser Angebote sei eine Therapie jedoch nicht immer vermeidbar. Den Ergebnissen des Arztreports zufolge hätten im Jahr 2019 rund 162.300 Kinder und Jugendliche erstmals eine Richtlinientherapie erhalten. Die Ursachen dafür seien sehr unterschiedlich. In knapp 37.400 Fällen seien Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen ausschlaggebend. Dafür gebe es viele Ursachen, angefangen von Trauererlebnissen bis hin zum Mobbing.

„Junge Menschen sind heutzutage vielen Belastungen ausgesetzt, die der Psyche zusetzen können. Bis zu welchen Grad einzelne Faktoren wie Mobbing eine Rolle spielen, lässt sich aber nicht genau bemessen“, erläuterte Szecsenyi. Die zweithäufigste Ursache für eine erstmalige Therapie seien im Jahr 2019 Depressionen, und zwar in rund 23.100 Fällen gewesen, gefolgt von emotionalen Störungen im Kindesalter in gut 22.000 Fällen.

Viele junge Menschen leiden den Ergebnissen des Reports zufolge über Jahre an psychischen Störungen.
Dies belege eine Langzeitbetrachtung von Kindern und Jugendlichen, die im Jahr 2014 erstmals eine Psychotherapie erhalten haben und mindestens zwei Jahre zuvor keine anderweitige therapeutische Hilfe benötigten. So wurde bei mehr als jedem dritten Betroffenen bereits fünf Jahre vor Start der Richtlinientherapie zumindest eine psychische Störung dokumentiert. Nur bei 40,7% beschränkten sich die Psychotherapiesitzungen auf maximal ein Jahr, 36,4% erhielten auch mehr als zwei Jahre nach Start der Behandlung noch Psychotherapien.

Ausgabe 03 / 2021