Editorial
Auf den unterschiedlichen Veranstaltungen, die Bundeskanzler Olaf Scholz besucht, spricht er in letzter Zeit öfters von dem neuen Deutschlandtempo. Tempo und Geschwindigkeit sind zwei Parameter, über die jeder eine andere Auffassung haben kann, was dem einen zu schnell vorkommt, erscheint dem nächsten als zu langsam. Doch auf einen Punkt kann man sich einigen: Was die Themen Innovation und Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem betrifft, ist das Tempo definitiv viel zu langsam. Bei der Auftaktveranstaltung der Initiative „Gesunde Industriepolitik – Fortschrittsdialog“ machte Manfred Heinzer, Vice-President von Amgen, deutlich, dass 2023 das „Jahr der Entscheidungen“ sei. Die Schirmherrin der Initiative, der sich sieben forschende Pharmaunternehmen angeschlossen haben, ist die Bundestagsabgeordnete und parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Gabriele Katzmarek. Sie zeigt sich überzeugt davon, dass die Ampelkoalition etwas auf den Weg bringe, das dem Fortschritt und zukünftiger Industriepolitik Rechnung trage. „Wir werden daher die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung grundlegend verbessern und Prozesse wesentlich beschleunigen”, versprach Katzmarek als politische Vertreterin. Auf der Veranstaltung wies der FDP-Bundestagsabgeordnete Dr. Lukas Köhler auf die Chancen hin, die mit der neuen geopolitischen Weltlage verbunden seien. In den letzten Dekaden habe Deutschland die Wirtschaftspolitik und das -wachstum nach China, die Energieversorgung nach Russland und die Sicherheitspolitik in die USA ausgelagert, so Köhler. „Ich glaube, wir stehen vor ganz neuen Möglichkeiten und Chancen, weil wir jetzt ganz anders über Dinge nachdenken können.“ (Seite 15 und 16)
Wie dringend Tempo bei der Umsetzung von wichtigen Projekten im Gesundheitswesen erforderlich ist, offenbart auch das aktuelle Gutachten des Sachverständigenrats Gesundheit & Pflege zum Thema „Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“. Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, bis Ende Januar Vorsitzender der Sachverständigenkommission, kritisiert: „Unser Gesundheitssystem ist hochkomplex, ein behäbiges Schönwettersystem, das unter unzulänglicher Digitalisierung und einem formaljuristisch leerlaufenden Datenschutzverständnis leidet.“ Er bemängelt darüber hinaus, dass aus den aktuellen Krisen nicht die notwendigen Schlüsse gezogen worden seien. Das Problem sei jedoch kein Erkenntnis-, sondern vielmehr ein Daten- und Umsetzungsdefizit (Seite 16 und 17).
Eine Art Weckruf für Deutschland sollte die Entscheidung von BioNTech sein, seine Krebsforschung nach Großbritannien zu verlagern. Bei der Vorstellung des Jahresgutachtens der Expertenkommission für Forschung & Innovation wurde deutlich, dass es in Deutschland nicht an Kapital oder finanzieller Förderung mangelt. „Die Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation sind in Teilen nicht mehr zeitgemäß. Der Fall BioNTech legt bei uns bestehende Defizite auf schmerzhafte Weise offen. Wenn Deutschland als Standort für zukunftsweisende Schlüsseltechnologien in der ersten Liga spielen will, muss hier schnell und grundlegend nachgebessert werden“, mahnt Prof. Dr. Uwe Cantner von der Universität Jena und Vorsitzender der Kommission. Die Expertenkommission forderte außerdem, dass die geplante Datenstrategie klare und einfache Regelungen zur Datennutzung und zum Aufbau einer Datenökonomie schaffen müsse (Seite 19).
Diese Beispiele machen deutlich, dass das bisherige Deutschlandtempo definitiv kein Zielwert sein kann, an dem sich die Politik und alle anderen Akteure orientieren sollten. Wir dürfen gespannt sein, was das anvisierte neue Deutschlandtempo beinhaltet. Potenzial und Erkenntnis ist vorhanden – jetzt geht es an die Umsetzung. Und zwar hoffentlich in Hochgeschwindigkeit.
Ich wünsche Ihnen eine spannende und informative Lektüre. Wenn Sie Feedback geben möchten und/oder interessante Themenvorschläge haben, schreiben Sie gerne an:
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Jutta Mutschler
Chefredakteurin „Market Access & Health Policy“