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Reformmaßnahmen verpuffen

06.11.2019 15:55
Mit geschätzten 387 Milliarden Euro vermeldete das Statistische Bundesamt für 2018 einen neuen Höchstwert der Gesundheitsausgaben in Deutschland. Bereits im Jahr zuvor wurde die Marke von einer Milliarde Euro pro Tag erstmals überschritten. Vor diesem Hintergrund nehmen Bevölkerung und Ärzte die Gesundheitsversorgung in Deutschland immer noch als sehr leistungsfähig wahr und viele Bürger haben in den vergangenen Jahren nochmals bessere Erfahrungen gemacht. Vielfach bemängelt werden aber weiterhin lange Wartezeiten beim Arzt und vorenthaltene Leistungen aus Kostengründen. Das sind einige der Ergebnisse aus dem 10. MLP Gesundheitsreport, den Professor Dr. Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach und Dr. Uwe Schroeder-Wildberg, Vorstandsvorsitzender von MLP, im Rahmen einer Pressekonferenz vorstellten. Ein weiterer interessanter Aspekt ist auch, dass mit einigen von der Politik eingeleiteten Reformmaßnahmen weder die Bevölkerung noch die Ärzte zufrieden sind beziehungsweise die Ergebnisse dieser Maßnahmen nicht bei den Betroffenen ankommen.

„Insgesamt beurteilen die meisten Bürger und Ärzte die Gesundheitsversorgung in Deutschland noch als gut oder sehr gut – 77 Prozent bzw. 89 Prozent“, erklärte Professor Dr. Renate Köcher bei der Vorstellung der aktuellen Studienergebnisse. 20 Prozent der Bürger geben an, in den vergangenen Jahren nochmals bessere Erfahrungen gemacht zu haben. Allerdings beklagten 62 Prozent der Bevölkerung lange Wartezeiten – im Vergleich waren es 2012: 52 Prozent und 2016: 55 Prozent. Besonders betroffen zeigten sich hier gesetzlich Krankenversicherte (65 Prozent). Außerdem haben 34 Prozent der Bürger das Gefühl, dass ihnen medizinische Leistungen aus Kostengründen vorenthalten würden.

Aus der Perspektive der Ärzte betrachtet wird diese Vermutung auch bestätigt, denn 45 Prozent der befragten Ärzte geben an, dass dies bei ihnen schon vorgekommen sei. Köcher weiter: „Noch verbreiteter sind Verschiebungen von Behandlungen aus Kostengründen. So sahen sich 64 Prozent der Ärzte bereits dazu gezwungen – vor drei Jahren geschah dies noch seltener.“ Da waren es noch 57 Prozent. Entsprechend verbreitet seien deshalb Sorgen um die Therapiefreiheit, das gaben 62 Prozent der Ärzte an. Im Kontext um Terminvereinbarungen erklärten eine deutliche Mehrheit der Ärzte (63 Prozent), dass Patienten Termine nicht einhielten. 35 Prozent erlebten dies sogar häufig. Bei der Befragung der Bevölkerung zum Thema Termintreue zeige sich allerdings eine gewisse Diskrepanz. So räumten laut Studie nur 19 Prozent der Patienten ein, dass sie einen Arztermin ohne vorherige Absage verpasst hätten. Nach Einschätzung von Renate Köcher könnte jedoch gerade eine bessere Termintreue bei Fachärzten zur Entlastung beitragen.

Mit Blick auf die Situation in den Krankenhäusern berichtet Köcher über eine Reihe von Verschlechterungen. So klage eine deutlich gestiegene Mehrheit der Krankenhausärzte (61 Prozent) über fehlende Zeit für ihre Patienten. Besonders von dieser Situation betroffen schätzten sich Assistenzärzte mit 67 Prozent ein. Als ein Grund für die mangelnde Zeit nannte rund die Hälfte der Krankenhausärzte, dass sie mehr Patienten betreuen müssten. Dieser Personalengpass zeige sich laut Köcher sowohl im Ärztemangel als auch in der Schwierigkeit, offene Stellen bei Krankenschwestern oder -pflegern zu besetzen.

„Die strukturellen Probleme zeichnen sich zunehmend auch in der wahrgenommenen Qualität der Versorgung in deutschen Krankenhäusern ab: Sie sei weniger oder gar nicht gut, urteilt inzwischen rund jeder fünfte Krankenhausarzt – 2016 war es nur knapp jeder Zehnte“, konstatierte Köcher. Obwohl für die jüngsten Reformmaßnahmen zur Steigerung der Qualität in Krankenhäusern mehr als 6 Milliarden Euro bis 2020 veranschlagt seien, gebe es mehr Krankenhausärzte, die die Reformmaßnahmen für wirkungslos halten (47 Prozent), als solche, die positive Auswirkungen wahrnehmen (37 Prozent). Aus Sicht von drei Vierteln der Krankenhausärzte dominierten wirtschaftliche Aspekte das medizinisch Sinnvolle.

Ärztemangel tritt immer deutlicher zutage – besonders im Osten

Laut der aktuellen Studie nimmt die Bevölkerung den Ärztemangel bereits deutlich wahr oder rechnet damit – im Osten (64 Prozent) nochmals stärker als im Westen (40 Prozent). 2016 war das Problem noch nicht so virulent. Auch die niedergelassenen Ärzte spürten bereits eine Verschärfung des Ärztemangels: Vor drei Jahren sahen 60 Prozent diesen in der eigenen Region oder rechneten damit, 2019 ist der Wert auf 71 Prozent gestiegen.

Einen Nachfolger für die eigene Praxis zu finden, halten mit rund zwei Dritteln nochmals mehr Niedergelassene für schwierig oder sehr schwierig als noch vor drei Jahren (2016: 57 Prozent). Nur für ein gutes Drittel der Krankenhausärzte käme die Niederlassung infrage. Als Gründe dagegen führen die Ärzte insbesondere ihren Gesundheitszustand (17 Prozent), die eigene Fachrichtung (15 Prozent) und das finanzielle Risiko (10 Prozent) an. Für 69 Prozent der niedergelassenen Ärzte ist es zudem schwierig, geeignetes Personal für ihre Praxis zu finden (2016: 59 Prozent). Laut Arbeitsagentur ist rund jede zehnte Ausbildungsstelle für Arzt- und Praxishilfen unbesetzt.

Dr. Uwe Schroeder-Wildberg führte einige Maßnahmen an, die die flächendeckende Versorgung auch in Zukunft sicherstellen könnten. So befürworteten 88 Prozent der Ärzte finanzielle Anreize für Gemeinschaftspraxen im ländlichen Raum. „Zudem halten es 81 Prozent für sinnvoll, in strukturschwachen Regionen verstärkt medizinische Versorgungszentren zu gründen“, referierte Schroeder-Wildberg die Studienergebnisse.

Pessimistische Zukunftserwartungen

Besonders interessant sind die prognostizierten Perpektiven der Ärzte wie auch der Bevölkerung. Für die kommenden zehn Jahre gehen Ärzte laut Studie weiterhin von einer Verschlechterung der Gesundheitsversorgung aus (59 Prozent, 2016: 62 Prozent). In der Bevölkerung erwarten 30 Prozent pauschal eine Verschlechterung. Zugleich rechnet eine breite Mehrheit weiterhin mit einer Zwei-Klassen-Medizin (60 Prozent, 2016: 67 Prozent) und steigenden Kassenbeiträgen (72 Prozent, 2016: 81 Prozent). Ärzte befürchten insbesondere Versorgungsschwierigkeiten im ländlichen Raum (90 Prozent) und nochmals weniger Zeit für die Behandlung ihrer Patienten (85 Prozent). Zudem gehen drei Viertel davon aus, dass sie in Zukunft nicht mehr alle medizinisch notwendigen Leistungen verordnen können.

Umfassende Reform des Gesundheitswesens wird vermisst

Für Ernüchterung sorgen vor allem die in den letzten drei Jahren umgesetzten Reformmaßnahmen – eine Reihe davon verpuffe nach Ansicht vieler Bürger und Ärzte. Kritisch betrachtet werden zum Beispiel die Maßnahmen für eine schnellere Terminvergabe – 57 Prozent der Bürger erwarteten hier keine spürbaren Verbesserungen. 2016 hielten sie die Terminvergabestelle noch für eine gute Maßnahme (58 Prozent). Auch die Einführung einer Hausarztprämie stoße auf Skepsis: Etwas mehr als ein Drittel der Bürger lehnt diese ab, Ärzte hingegen befürworten diese Maßnahme (63 Prozent). Letztere kritisieren allerdings die Erweiterung der Sprechstunde auf 25 Wochenstunden (62 Prozent). Auch die kürzlich festgelegten Personaluntergrenzen für Krankenhäuser stoßen auf Ablehnung – nur 12 Prozent der Krankenhaus-ärzte halten eine Umsetzung für möglich. Andere Reformvorschläge werden von den Ärzten hingegen geschätzt: 62 Prozent befürworten, dass zukünftig jeder automatisch potenzieller Organspender ist, wenn er nicht widerspreche.

Eine umfassende Reform des Gesundheitswesens vermissen 46 Prozent der Bürger und 70 Prozent der Ärzte, so die Studienautoren. Eine große Mehrheit der Ärzte zeigt sich zugleich skeptisch, dass diese noch kommen werde (75 Prozent). „Die Politik ist gefordert, strukturelle Verbesserungen anzugehen. Ein Herumdoktern an einzelnen Schwachstellen im System reicht nicht mehr, um unser Gesundheitswesen zukunftsfest zu machen – das zeigt unsere Studie sehr deutlich“, sagte Schroeder-Wildberg.

Digitalisierung als Lösung für diverse Missstände?

Von der fortschreitenden Digitalisierung versprechen sich die Ärzte insbesondere Lösungsansätze für den wachsenden bürokratischen Aufwand, den 80 Prozent als das größte Problem in ihrer Tätigkeit sehen. Dabei sehen vor allem die jüngeren Ärzte die Politik in der Bringschuld: So zeigen sich 58 Prozent überzeugt, dass die Politik im Bereich Digitalisierung mehr tun müsse. Bei den unter 45-jährigen Ärzten denken sogar mehr als zwei Drittel so.

53 Prozent der Ärzte rechnen damit, dass die Digitalisierung die Medizin grundlegend ändern wird – für 4 Prozent ist dies sogar schon geschehen. Den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) bewertet knapp die Hälfte als Chance, 38 Prozent sehen eher Risiken. KI könne die ärztliche Expertise aber auch nicht ersetzen: 83 Prozent sehen die entscheidende Rolle in der Gesundheitsversorgung zukünftig weiter bei menschlichen Ärzten.
Telemedizin käme für die Bevölkerung zunehmend infrage (2019: 33 Prozent, 2016: 22 Prozent) – bei den unter 30-Jährigen sogar für etwas mehr als die Hälfte. Mediziner rechnen auch immer mehr mit entsprechenden Angeboten in den nächsten zehn Jahren (89 Prozent), bei den Bürgern sind es noch deutlich weniger (48 Prozent). Die Ärzte sehen in der Telemedizin eine Antwort auf den Ärztemangel (57 Prozent) und bescheinigen ihr generell mehr Vorteile (58 Prozent) als Nachteile (30 Prozent).

Ausgabe 06 / 2019