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AWMF: Gut gemeinte EU-Regelungen behindern Patientenversorgung und medizinische Innovation

02.11.2023 17:39
Unverzichtbare Nischenprodukte, wie sie beispielsweise in der Kinderkardiologie zum Einsatz kommen, könnten infolge der europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR) vom Markt verschwinden, und die medizinische Innovation im Bereich von Labordiagnostik und medizinischen Interventionen könnte aus denselben Gründen ausgebremst werden. Davor warnt die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) im Vorfeld ihrer Delegiertenkonferenz am 4. November 2023, bei der es um dieses Thema gehen wird.

Da es bei chirurgischen Nischenprodukten häufig keine vergleichbaren Ersatzprodukte gibt, wirkt sich dies unmittelbar negativ auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten aus. Die AWMF fordert daher die Koordination durch die Task-Force „Orphan Devices“ auf europäischer Ebene. Um die Innovationsfähigkeit bei der Entwicklung neuer Medizinprodukte zu erhalten, müssten Hürden bei der Verfügbarkeit bereits existierender Daten verringert und die Nutzung von Registerdaten der Fachgesellschaften ermöglicht werden. Zudem fordert die AWMF in Bezug auf die Neuregelung der EU-Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR), dass Laboren auch zukünftig die eigene Entwicklung innovativer Diagnostika möglich sein sollte.

Seit Mai 2021 gilt die europäische Medizinprodukteverordnung, die Medical Device Regulation (MDR), welche die Marktzulassung von Medizinprodukten, etwa für chirurgische Instrumente, Implantate, Verbandsstoffe oder Röntgengeräte regelt. „Als AWMF unterstützen wir das Ziel der MDR, die Patientensicherheit durch einheitliche europäische Standards zu erhöhen. Zugleich ist es jedoch wichtig, dass die neuen Regelungen nicht zu Engpässen in der aktuellen Versorgung führen und dass die Innovationsfähigkeit der Medizin nicht verschlechtert wird“, betont Professor Dr. med. Dr. med. dent. Henning Schliephake, stellvertretender Präsident der AWMF.

Das gelte zum Beispiel für Nischenprodukte, die nur in geringer Stückzahl benötigt werden und deren Re-Zertifizierung so aufwendig ist, dass Hersteller sie vom Markt nehmen, erläutert Professor Dr. med. Ernst Klar, Vorsitzender der Ad-hoc-Kommission „Bewertung von Medizinprodukten“ der AWMF. So könnte beispielsweise eine speziell für Kinder entwickelte Biopsie-Zange vom Markt verschwinden, die nach einer Herztransplantation eine schonende Entnahme von Gewebeproben aus dem Herzen zum Nachweis einer Abstoßungsreaktion ermöglicht. „Andere Biopsie-Zangen sind größer und setzen einen erweiterten Gewebedefekt, was zu einer größeren Verletzungsgefahr und damit einer schlechteren Versorgung führen würde“, betont der Experte. Gibt es diese Zange nicht mehr, verschlechtere sich die Versorgung dieser Patienten. Um das zu vermeiden, unterstützt die AWMF auf europäischer Ebene die neue Task-Force „Orphan Devices“. Sie soll für Nischenprodukte, die aufgrund geringer Behandlungsfälle selbst keine klinischen Daten generieren können, entsprechende Leitfäden mit praktikablen Zulassungsanforderungen entwickeln.

„Die Politik muss darauf achten, dass die Umsetzung der MDR nicht zu einem Rückgang an Innovationen bei Medizinprodukten führt. Denn auch für die wissenschaftlichen Studien, die für die Zulassung neu entwickelter Produkte notwendig sind, werden in der MDR sehr hohe Anforderungen gestellt, die personell und strukturell aufwendig sind und gegenfinanziert werden müssen“, so Klar. „Die AWMF fordert entsprechende Unterstützung durch eine niederschwellig verfügbare Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, um vor allem in den forschenden wissenschaftlichen Institutionen und den Transferbereichen die höheren materiellen und personellen Aufwände sicherstellen zu können“, betont der stellvertretende Präsident der AWMF, Professor Schliephake. Wesentliche Unterstützung kann aber auch durch klinische Daten aus den Registern der Fachgesellschaften erfolgen, die in Koordination durch die AWMF für die Neuzulassung und Re-Zertifizierung von Medizinprodukten besser nutzbar gemacht werden müssen.

Verbot von PFAS darf nicht zu schlechterer Patientenversorgung führen

Engpässe in der Versorgung drohen auch durch das geplante Verbot von Industriechemikalien wie Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS), die beispielsweise Teil chirurgischer Instrumente sind sowie in Herzschrittmachern oder Narkosegeräten vorkommen. Auch wenn die AWMF grundsätzlich ein Verbot der umweltbelastenden Stoffe unterstützt, weist sie daraufhin, dass bis zum Entwickeln von Ersatzsubstanzen die medizinische Versorgung auf dem aktuellen Niveau gesichert bleiben muss. Denn bisher gibt es für PFAS keine Ersatzstoffe, die genauso langlebig und gut verträglich sind. „Wir befürchten, dass die Übergangsfristen zu kurz sind, um gleichwertige Ersatzstoffe zu entwickeln“, so der Experte. Um die Patientenversorgung dennoch aufrechtzuerhalten, fordert die AWMF, die PFAS-Untergruppen risikoadaptiert einzustufen und je nach Risiko einen weiteren Einsatz zu ermöglichen, bis Ersatzstoffe verfügbar sind. Darüber hinaus brauche es eine entsprechende Forschung und Entwicklung von unbedenklichen Ersatzstoffen sowie eine effiziente Kontrolle des Produktionsprozesses und der Entsorgung von PFAS durch die Hersteller, um die Umweltbelastungen zumindest zu senken.

Laboren sollte auch zukünftig eigene Entwicklung von Diagnostika möglich sein

Auch im Bereich der Labordiagnostik und Pathologie bringt die Neuregelung der Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR), welche das Inverkehrbringen von In-vitro-Diagnostika regelt, viele Herausforderungen mit sich. Häufig stellen Labore In-vitro-Diagnostika selbst her, etwa wenn es für die Diagnostik von seltenen Erkrankungen keine kommerziell verfügbaren Produkte gibt. Die neue EU-Verordnung sieht nun vor, dass diese Produkte aus Eigenherstellung nicht mehr angewandt werden dürfen, sobald gleichartige Produkte auf dem Markt verfügbar sind. „Eigenständig entwickelte In-vitro-Diagnostik-Artikel, in die häufig viel Kapazität und finanzielle Mittel fließen, müssten dann eingestellt werden“, erläutert Professor Dr. med. Michael Vogeser, Vorsitzender der Ad-hoc-Kommission „In-vitro Diagnostik“ der AWMF. „IVD aus Eigenherstellung fördern außerdem die Innovation im Bereich der Universitätsmedizin und müssen auch zukünftig mit vertretbarem Aufwand einsetzbar sein. Investitionen in solche Verfahren wären nach den aktuellen Bestimmungen von vornherein nutzlos, da sie jederzeit durch ein kommerzielles Produkt auf dem Markt abgelöst werden könnten“, so Schliephake. Dieser Aspekt müsse bei der bis zum Jahr 2027 vorgesehenen Evaluation der IVDR berücksichtigt werden. Hier gelte es auch klarzustellen, dass die Regulation von Prozessen und Verfahren in Laboren nach wie vor in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten liegt und somit in Deutschland im Rahmen der ärztlichen Selbstverwaltung erfolgen müsse, so Vogeser.