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Das System braucht mehr Vertrauen und nachgewiesene Effizienz

26.03.2024 09:40
Seit Jahresbeginn sind die Gesundheitsforen mit rund 30 Prozent am Berliner inav – privates Institut für angewandte Versorgungsforschung beteiligt. Im Gespräch mit Market Access & Health Policy erläutern Susanne Pollak, Geschäftsführerin der Gesundheitsforen, sowie Professor Volker Amelung und Malte Haring, beide Geschäftsführer des inav, die Beweggründe für die engere Zusammenarbeit und den daraus resultierenden Nutzen für die Kunden. Ziel ist dabei, nicht nur die aktuellen Herausforderungen im Gesundheitssystem „akut zu behandeln“, sondern mit gemeinsamen, innovativen Lösungen zu einem zukunftsfähigen System beizutragen.

Frau Pollak und Herr Professor Amelung, ist die Kooperation zwischen den Gesundheitsforen und dem inav als Antwort auf die zunehmend komplexen Herausforderungen im Gesundheitssystem zu verstehen? Welche Ziele verfolgen Sie mit der neuen Partnerschaft?
Susanne Pollak: Die strategische Partnerschaft ist in erster Linie eine Fortführung und stärkere Verankerung unserer gemeinsamen Aktivitäten. Wir sind bereits seit Jahren durch gemeinsame Initiativen und Projekte im Gesundheitsmarkt miteinander verbunden, insbesondere auf dem Gebiet der fachübergreifenden Versorgungsforschung, nationaler Register und von Veranstaltungen.
Die Geschäftsfelder unserer Unternehmen ergänzen sich hervorragend. Es war an der Zeit, den nächsten Schritt zu gehen, um für Kunden durch die Bündelung unserer Fähigkeiten noch attraktiver zu werden und damit ist es natürlich auch eine Antwort auf die zunehmend komplexen Herausforderungen im Gesundheitsmarkt.

Volker Amelung:
Wenn man sich das Profil der Gesundheitsforen und des inav genau anschaut, gibt es nur wenige Leistungsbereiche, in denen wir unmittelbar im Wettbewerb stehen. Es geht also nicht darum, gemeinsam mehr vom Gleichen anzubieten, sondern vielmehr darum, das Spektrum zu erweitern. In den Bereichen Versorgungsforschung und Evaluationen ist eine deutliche Entwicklung zu beobachten: Die Projekte werden immer größer und komplexer. Während früher meist verhältnismäßig schlichte Ergebnisevaluationen gefragt waren, ist der Anspruch an eine Evaluation heute wesentlich höher. Das zeigt sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Die Interventionen sind inzwischen hochkomplex und diese Komplexität muss durch das Forschungsdesign und die Methodik abgebildet werden. Hier hat das inav in den letzten Jahren extrem viel Erfahrung in unterschiedlichsten Projekten gesammelt. Aber wir haben mittlerweile auch viel mehr Möglichkeiten, Evaluationen durch das Heranziehen zusätzlicher Daten anzureichern und präziser zu validieren. Da kommen beispielsweise der Datenschatz und die Analytik-Expertise der Gesundheitsforen ins Spiel.

Welchen Nutzen haben die Kunden und Akteure des Gesundheitssystems von der Partnerschaft? Welche besonderen Lösungen können Sie mit dieser Leistungserweiterung bieten?
Malte Haring: Diese Frage lässt sich am besten an einem Beispiel beantworten. Evaluationen werden immer mehr zur Politikfolgenabschätzung genutzt, wie es etwa bei dem Projekt DigitalRadar Krankenhaus der Fall ist, an dem das inav als Konsortialpartner beteiligt ist. Wenn man als Bundesregierung über den Krankenhauszukunftsfonds 4,3 Milliarden Euro in den Auf- und Ausbau digitaler Strukturen in Krankenhäusern steckt, will man schließlich auch wissen, welche Wirkung diese Maßnahme hat – sprich: ob das Geld an den richtigen Stellen investiert wurde. Vor diesem Hintergrund wurde erstmals der digitale Reifegrad von 1.700 Krankenhäusern gemessen. Ein solches Projekt erfordert neben Konzeption, Methodik und Projektmanagement eine Vielzahl weiterer Leistungen, beispielweise Software-Entwicklung, Datenmanagement und Analytik, begleitendes Marketing, etwa in Form einer Website, Kommunikationsmaßnahmen, Informationsveranstaltungen und vieles mehr. In solchen Projekten können wir im Rahmen der Partnerschaft mit den Gesundheitsforen in Zukunft einen erheblich größeren Leistungsausschnitt abdecken als beide Unternehmen das jeweils allein könnten. Wir haben mehr Flexibilität sowohl in Bezug auf die Vielfalt der Leistungen als auch hinsichtlich der Projektgrößen und der damit verbundenen personellen Kapazitäten. Das inav bringt eine Wissenschafts-DNA, eine große Politiknähe und auch viel Know-how aus dem internationalen Umfeld mit, während die Gesundheitsforen zum Beispiel im technologischen Bereich, bei Daten und im Veranstaltungsbereich ganz stark sind. In der Kombination dieser Stärken liegt der große Mehrwert unserer engen Kooperation.

Wo sehen Sie den größten Mehrwert für die Kunden, Frau Pollak?
Susanne Pollak: Wir wollen die Stärken beider Unternehmen nutzen und bieten damit künftig ein breiteres Leistungsportfolio, vornehmlich im Bereich der Versorgungsforschung, an. Mit in Summe 140 Fach- und Führungskräften verbinden wir beispielsweise die langjährige wissenschaftliche Expertise des inav bei großen Evaluationen, unter anderem in den Innovationsfondsprojekten, um mit unserer Expertise in der Spezialisierung der Bereiche Analytik, Register und Softwareentwicklung. Natürlich profitieren beide Unternehmen und auch unsere Kunden von der gegenseitigen Netzwerkvergrößerung im Gesundheitsmarkt. Beide Unternehmen ergänzen sich hervorragend in den Zielgruppen, die wir künftig auch auf unseren Veranstaltungsformaten noch stärker zusammenbringen wollen, um so Wissenschaft und Praxis tiefer zu verschränken und den Wissensaustausch in der Branche zu fördern.

Zwei zentrale Herausforderungen im Gesundheitssystem: Fachkräftemangel und begrenzte finanzielle Ressourcen. Aufgrund der geopolitischen Veränderungen wird immer deutlicher, dass in nächster Zukunft nicht mehr Steuergeld ins System kommen wird – der Fokus liegt auf anderen Bereichen, wie zum Beispiel den Militärausgaben. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation und welche Handlungsempfehlungen leiten Sie daraus ab?
Susanne Pollak: Ja, die Situation ist sehr angespannt. Es stehen große Herausforderungen für unser System an, die es in den kommenden Jahren zu bewältigen gilt. Diesen Herausforderungen steht eine ganzheitliche und koordinierte Herangehensweise entgegen, die auf Effizienz, Innovation und Zusammenarbeit basiert um sicherzustellen, dass das Gesundheitssystem auch unter begrenzten finanziellen Ressourcen weiterhin eine qualitativ hochwertige Versorgung bieten kann. Es ist von entscheidender Bedeutung, die vorhandenen Ressourcen effizienter zu nutzen, indem wir mehr auf innovative Technologien, wie den Einsatz von KI, Robotik und weiteren digitalen Gesundheitslösungen setzen, Prozesse optimieren und die Qualität der Versorgung verbessern. Ich sehe vor allem eine Dringlichkeit in der Investition in Präventionsmaßnahmen. Früherkennung ist sicher einer der Schlüsselfaktoren und kann langfristig dazu beitragen, die Belastung des Gesundheitssystems zu verringern.

Volker Amelung: Die Geschichte der knappen oder gar zu knappen finanziellen Ressourcen im Gesundheitssystem höre ich schon seit 25 Jahren in verschiedensten Variationen. Das Kernproblem im Gesundheitswesen besteht aber nicht darin, dass zu wenig Ressourcen vorhanden sind, sondern dass wir diese Ressourcen falsch einsetzen oder schlecht mit ihnen umgehen. Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir in Deutschland, was die Leistungen angeht, in vielen Bereichen zu viel: zu viele Arztbesuche, zu viele Krankenhäuser, zu viele Hüft-OPs, um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn im Gesundheitswesen nur das gemacht würde, was wirklich notwendig ist, würde das immense Ressourcen freisetzen, die wiederum anderswo sinnvoller eingesetzt werden können. Diese Mengenkomponente zu adressieren, wird ein zentraler Baustein sein, wenn es um die Gesundheitsversorgung der Zukunft geht.

Gesundheit und Gesunderhaltung sind also mehrdimensional zu betrachten?
Volker Amelung: Genau da schließt sich direkt ein weiterer Punkt an, den ich für extrem relevant halte: Wir wissen heute, dass die medizinische Versorgung an der Herstellung beziehungsweise Erhaltung von Gesundheit nur einen relativ geringen Anteil hat. Gesundheit wird in hohem Maße von anderen Faktoren determiniert wie Ernährung, Bildung, sozialem Umfeld, Arbeitsbedingungen, Umwelteinflüssen und so weiter. Das bedeutet, dass Gesundheit und auch Versorgung viel stärker über Ressortgrenzen hinweg gedacht müssen, im Sinne des von der WHO entwickelten Ansatzes Health in all policies. Gesundheitsregionen und Gesundheitskioske, die an der Schnittstelle zwischen medizinischer und sozialer Versorgung agieren, sind aus dieser Perspektive absolut folgerichtig, aber sie sind nur ein Mosaikstein in einem viel größeren Bild. Insbesondere der Bereich Prävention wird zukünftig eine erheblich größere Rolle spielen.

Welche Bedeutung messen Sie zukünftig dem Thema Prävention, das in den vergangenen Jahren ein eher stiefmütterliches Dasein geführt hat, bei?

Volker Amelung: Sinnvolle Präventionskonzepte auf die Schiene zu bringen, hat ein relevantes Potenzial, die im System vorhandenen Ressourcen effizienter zu nutzen, weil Prävention eben auch dort ansetzt, wo teure medizinische Versorgung noch vermieden werden kann. Dort besteht noch ein großer Bedarf an Blaupausen, die dann für das jeweilige Setting, für die einzelne Region angepasst werden müssen. Auch das ist übrigens ein Geschäftsfeld, in dem wir im inav unterwegs sind: die Entwicklung von Blueprints und die Generierung von Real World Data im Rahmen der Erprobung.

Wie kann dabei dem erwähnten Problem Fachkräftemangel begegnet werden?
Volker Amelung: Hier gilt im Grunde genau dasselbe wie für die finanziellen Ressourcen. Statt in Polen, in Thailand, auf den Philippinen oder anderswo auf die „Jagd“ nach Pflegekräften zu gehen, sollten wir uns vielleicht lieber einmal Gedanken darüber machen, wie wir die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern können. Dass Pflegekräfte durchschnittlich nach acht Jahren wieder aus dem Beruf ausscheiden, muss alarmieren. Und es ist bei den meisten übrigens nicht das Gehalt der entscheidende Treiber für eine berufliche Umorientierung, sondern es sind Faktoren wie hohe Arbeitsbelastung, schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, schlechte Arbeitsatmosphäre, starre hierarchische Strukturen oder fehlende Möglichkeiten zur Weiterentwicklung.

Malte Haring: Gesundheitsberufe attraktiver zu gestalten, ist sicher eine Antwort auf das Problem des Fachkräftemangels. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Pflegeberufe, auch durch Akademisierung, ist ein Schritt in die richtige Richtung, der letztlich auch mit einer Weiterentwicklung des gesamten Systems einhergeht. Wenn wir Versorgung zukünftig weiter und über die traditionellen Grenzen des Systems hinausdenken, wie Volker Amelung es gerade beschrieben hat, brauchen wir eben auch neue Berufsbilder, wie beispielsweise die Community Health Nurse oder Care Manager, die die Situation der von ihnen betreuten Menschen ganzheitlicher in den Blick nehmen. Aktuell begleiten wir die Umsetzung von mehreren lokalen Gesundheitszentren in Hamburg sowie von drei Gesundheitskiosken in Nordrhein-Westfalen und diese Projekte geben spannende Einblicke, wer solche Einrichtungen eigentlich nutzt und welche Leistungen dort vorrangig nachgefragt werden.

Bundeskanzler Ludwig Erhard hat in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts postuliert: „Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie“. Welchen Anteil hat die Psychologie derzeit im Gesundheitssystem? Die Krankenhausreform stößt auf Widerstand, streikende Pflegekräfte, Ärzte und Apotheker, um nur ein paar Probleme zu benennen. Salopp gefragt: Wie ist das System noch zu retten?
Susanne Pollak: Die Psychologie spielt zweifellos eine wichtige Rolle im Gesundheitssystem, sowohl in Bezug auf die Interaktion zwischen Patienten und Anbietern als auch innerhalb der verschiedenen Akteure des Gesundheitssystems. Einen konkreten Prozentsatz für den Einfluss der Psychologie auf das Gesundheitssystem kann man nur schwer angeben. Ich denke, dass es vielmehr wichtig ist zu verstehen, wie psychologische Faktoren das Verhalten, die Entscheidungsfindung und die Dynamik im Gesundheitssystem beeinflussen.

Malte Haring: Das ist eine Frage, die genau zu einem Thema passt, mit dem ich mich im Rahmen meiner Dissertation in den letzten drei Jahren intensiv auseinandergesetzt habe. Streikende Pflegekräfte, Widerstände gegenüber Veränderungen, allgemeine Unzufriedenheit unter den Akteuren – all das hat mit Spannungen zu tun. Und Spannungen resultieren sehr häufig aus Interessenkonflikten. Sehr häufig werden solche Interessenkonflikte nicht klar und offen thematisiert. Stattdessen werden Strohmann-Argumente ins Feld geführt, zum Beispiel Datenschutz oder man schiebt die Patientinnen und Patienten vor, die vermeintlich nicht mitspielen würden. Die echten Ziele, Interessen oder Probleme der verschiedenen Stakeholder werden dagegen unter den Teppich gekehrt. Aber solange die hidden agendas nicht bekannt sind, kann darüber auch nicht verhandelt werden und es können auch keine echten Lösungen gefunden werden.

Welche Stellschrauben müssen gedreht werden, um das System zukunftsfähig zu erhalten und die Beharrungskräfte in Kräfte des Aufbruchs zu verwandeln?

Malte Haring: Eine wichtige Maßnahme, um das System zu retten, ist es, ein Bewusstsein für Spannungen und Interessenkonflikte zu entwickeln und diese Konflikte wirklich anzugehen, statt Scheinargumente in den Ring zu werfen. Dann wird es uns auch gelingen, Veränderungsprozesse erfolgreich zu Ende zu führen, und zwar in einer Geschwindigkeit, die für die Beteiligten auch wahrnehmbar ist. Natürlich gibt es noch eine Vielzahl weiterer, auch statischer Barrieren, die zu überwinden sind, aber der beschriebene Aspekt wäre in meinen Augen ein lohnenswerter Ansatzpunkt.

Susanne Pollak:
Angesichts der aktuellen Probleme und Widerstände – und das nicht nur innerhalb des Gesundheitssystems – ist es klar, dass dringend Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das System wieder zukunftsfähig zu machen. Ich denke hierbei in erster Linie an Vertrauen! Es ist wichtig, dass wir es schaffen, wieder eine Kultur des Vertrauens, der Offenheit und der Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren zu fördern. Beispiel Patienten-Empowerment: Indem Patienten in Entscheidungsprozesse einbezogen und ermächtigt werden, können sie zu besseren Ergebnissen beitragen und es wird gleichzeitig das Vertrauen in das Gesundheitssystem gestärkt.

Der erste Referentenentwurf für das geplante Medizinforschungsgesetz wurde vorgestellt und die Verbände konnten ihre Stellungnahmen einreichen. Wie bewerten Sie das Gesetz, wird der Standort Deutschland damit gestärkt? Wo sehen Sie Optimierungsbedarf?

Susanne Pollak: Wie jedes neue Gesetz bringt auch dieses wieder neue Chancen, aber auch Risiken für die unterschiedlichen Lager mit sich. Der AOK-Bundesverband warnte erst kürzlich vor der Einführung vertraulicher Erstattungspreise für neue Arzneimittel. Die GKV geht durch die Einführung des Gesetzes von erneuter Mehrbelastung aus und kritisiert damit den Entwurf. Den Industrieverbänden gehen die von ihnen im Grundsatz begrüßten Pläne teilweise nicht weit genug und sie bezweifeln, dass der Pharmastandort ausreichend mit den geplanten Maßnahmen im internationalen Vergleich gestärkt wird.

Werfen wir noch einen Blick auf die europäischen Entwicklungen: Wie beurteilen Sie die EU-HTA-Verordnung – vor allem auch in Hinblick auf das Zusammenspiel und die zukünftige Entwicklung des AMNOG?
Malte Haring: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass gewisse Fragen quasi in einem Spagat zwischen lokal und regional betrachtet werden müssen – und das muss sich auch gar nicht widersprechen. Ein Vorteil von Standardisierung, der gerade für unsere Arbeit wichtig ist, liegt in der Generierung von großen Datenmengen, die dann eben auch miteinander vergleichbar sind. Wichtig ist, dass Daten, die auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene erhoben werden, anschlussfähig sind an größere Daten-Pools. Das bedeutet, dass das Thema Interoperabilität von vornherein mitgedacht werden muss. Und damit schließt sich auch der Kreis zu dem, was wir zu Beginn angesprochen haben: Daten sind extrem wichtig und bilden für Entscheider – sei es aus der Politik, bei den Kostenträgern oder in der Gesundheitswirtschaft – heute eine wichtige Grundlage für die Folgenabschätzung, aber in Rohform sagen sie nicht unbedingt etwas aus. Erst die Interpretation von Daten führt zu Erkenntnisgewinnen. Und dieser letztgenannte Punkt ist eben ein Asset, das wir aus dem inav in die Kooperation mit den Gesundheitsforen einbringen können.

Im Juni finden Europawahlen statt, im Herbst drei Landtagswahlen in Deutschland. Die Gesundheitsforen haben sich in einem klaren politischen Statement mit #wirsinddiemehrheit positioniert. Wie wichtig ist es, als Unternehmen politische Haltung zu zeigen? Was steht – mit besonderem Blick auf Europa – für uns als Bürger, für Unternehmen und das Gesundheitssystem auf dem Spiel?
Susanne Pollak: Die aktuellen Entwicklungen sind besorgniserregend und beschäftigten mich persönlich – sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext – intensiv. Genau aus diesem Grunde haben wir uns dazu entschieden, ganz klar und in diesem Fall auch politisch Haltung zu beziehen. Es ist uns wichtig, unsere Werte nach außen zu tragen und die Möglichkeiten der Kommunikation, die wir als Unternehmen mit unseren Mitarbeitenden haben, auch öffentlich zu nutzen. Ich möchte ungern den Blick darauf lenken, was auf dem Spiel steht. Ich möchte eher dagegen einen positiven Ausblick geben, denn ich glaube daran, dass wir es aufgrund unserer Werte, das heißt durch unsere Überzeugung für Demokratie und Toleranz in unserem Land, schaffen, uns zukunftssicher aufzustellen – #wirsinddiemehrheit.

Lassen Sie uns zum Schluss noch ein Gedankenspiel machen: Wie sehen Ihre jeweiligen Zukunftsszenarien des Gesundheitssystems 2030 in Deutschland aus? Welche Anteile an der Umgestaltung des Systems haben die Gesundheitsforen und das inav bei diesen Zukunftsmodellen beigesteuert?
Susanne Pollak: Ich glaube und hoffe, dass wir es bis zum Jahr 2030 schaffen werden, endlich die Digitalisierung im Gesundheitswesen einen entscheidenden Schritt voranzubringen. So wird das Gesundheitssystem immer stärker von digitalen Technologien geprägt sein, einschließlich Telemedizin, elektronischen Patientenakten und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz in den unterschiedlichsten Bereichen. Zudem ist eine verstärkte Integration von ambulanten und stationären Versorgungsangeboten sowie eine stärkere Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Patienten bis zum Jahr 2030 weiter fortgeschritten.

Künftig könnte das Gesundheitssystem zudem stärker auf Prävention und Gesundheitsförderung ausgerichtet sein, um die steigenden Kosten im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten zu reduzieren. Angesichts des demografischen Wandels könnte außerdem die Pflege ein zentraler Bereich der Umgestaltung des Gesundheitssystems bis 2030 sein. Dies könnte eine verstärkte Nutzung von Technologien zur Unterstützung von Pflegekräften, eine bessere Integration von Pflegeleistungen in die Versorgungskette und eine Stärkung der ambulanten Pflege umfassen. Wir als Gesundheitsforen wollen, so wie auch heute schon, das Gesundheitssystem durch unsere Aktivitäten in den Bereichen Netzwerkbildung und Veranstaltungen weiter zusammenbringen, um den Austausch zu fördern und Innovationen zu entwickeln. Unsere Aktivitäten im Bereich Softwareentwicklung unterstützen das Voranschreiten der Digitalisierung und durch unsere Aktivitäten im Bereich Versorgungsforschung und Register haben wir die Zielsetzung, die medizinische Versorgung unterstützend zu verbessern.

Volker Amelung: Betrachtet man die Gesundheitsausgaben und das Outcome im internationalen Vergleich, stellt man fest: Für das Geld, das in Deutschland in das System hineinfließt, bekommen wir – plakativ ausgedrückt – nicht genügend Gesundheit heraus. Es besteht also sowohl aufseiten der Politik als auch der Kostenträger ein Handlungsdruck, das System innovativer und effizienter zu gestalten. An innovativen Ideen und Konzepten mangelt es eigentlich nicht – aber welche davon machen in der Praxis tatsächlich einen Unterschied?

Sicherlich würde man spontan zustimmen, dass Gewaltprävention in Schulen eine gute Sache ist, genauso wie Ernährungsberatung für Menschen mit Adipositas oder Suchtprävention für Jugendliche. Aber in welcher Form, in welchem Setting, in welcher Menge solche Angebote sinnvoll sind, ist häufig erstmal unklar. Unsere Arbeit hilft dabei, die besonders guten Konzepte von den weniger guten Konzepten zu unterscheiden. Mit unseren Evaluationsergebnissen liefern wir unseren Kunden eine wertvolle Basis, um Entscheidungen zu treffen: Ist der eingeschlagene Weg der richtige? Sind die Ressourcen gut eingesetzt? Wo gibt es Verbesserungspotenziale? Was sollten wir unbedingt weiterführen und wo muss man die Reißleine ziehen? Wenn unsere Arbeit dazu führt, dass eine Patientin oder ein Patient dann eine Versorgung erhält, die besser auf ihre oder seine Bedürfnisse zugeschnitten ist – sei es durch Gesundheitslotsen, eine bessere Therapie, durch digitale Unterstützung oder ein mobiles Versorgungsangebot –, dann ist das ein schönes Ergebnis unserer Arbeit.

Frau Pollak, Professor Amelung und Herr Haring, vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Jutta Mutschler, Chefredakteurin der Market Access & Health Policy.

 

 

Susanne Pollak ist Geschäftsführerin der Gesundheitsforen Leipzig GmbH.
Prof. Dr. Volker Amelung ist Gründer, Mehrheitsgesellschafter und Geschäftsführer der inav GmbH. Zudem hält er eine Professur für internationale Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Dr. des. Malte Haring ist Geschäftsführer der inav GmbH.

Ausgabe 02 / 2024