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Diagnostik und Therapie stärker verknüpfen

29.11.2018 12:17
Dass man in der Pharma- und Biotech-Forschung neben profundem Know-how und innovativen Ideen auch einen langen Atem braucht, um eine Substanz erfolgreich bis zur Marktreife zu entwickeln, ist eine Binsenweisheit. Was es für eine Wissenschaftlerin und ihr Team heißt, einen solchen Erfolg mit einer neuartigen Substanz zu erzielen, darüber sprach „Market Access & Health Policy“ mit Professor Dr. Helga Rübsamen-Schaeff, Gründungsgeschäftsführerin und Chair of the Advisory Board der AiCuris Antiinfective Cures GmbH. Am Beispiel ihres Unternehmens weist sie auf notwendige Veränderungen in der Gesundheitspolitik hin – beispielsweise bessere finanzielle Unterstützung von jungen Unternehmen. Mit Blick auf die Zukunft des Gesundheitssystems fordert sie eine stärkere Verzahnung von Diagnostik und Therapie. Als Wissenschaftlerin verfolgt sie darüber hinaus auch die Vision eines gesamteuropäischen Forschungsraums.

Frau Prof. Rübsamen-Schaeff, das erste antivirale Medikament aus der AiCuris-Pipeline – nämlich Letermovir (Handelsname „PREVYMIS“) – hat im November die FDA-Zulassung und Anfang Januar dieses Jahres die EMA-Zulassung erhalten. Derzeit ist es das einzige Medikament zur Prävention von Cytomegalovirus-(CMV)-Reaktivierungen und ‑Erkrankungen bei Patienten nach einer Knochenmarkstransplantation. Was bedeutet dieser Erfolg für Sie als Wissenschaftlerin, die gemeinsam mit ihrem Team jahrelang an diesem Wirkstoff geforscht hat?
Wenn man als Wissenschaftler/in sieht, dass nach intensiver Forschungsarbeit ein Medikament auf den Markt kommt, das Patienten nachweislich hilft, dann ist das einfach wunderbar. Gerade in der Indikation, in der wir unterwegs sind – also für den Schutz schwerstkranker Patienten nach einer Knochenmarkstransplantation vor CMV – gab es bis dato kein wirksames Medikament. Deshalb sind wir sehr glücklich und stolz, dass ein innovatives Medikament mit einem neuen Wirkmechanismus, das in unseren Labors gegen das Virus entwickelt wurde, dieser höchst gefährdeten Patientenpopulation nun helfen kann und ihre Überlebenswahrscheinlichkeit erhöht.

Bis aus einer Idee dann tatsächlich ein wirksames und zugelassenes Medikament wird, dauert es viele Jahre. Was war der Antrieb und die besondere Vorgehensweise des AiCuris-Forschungsteams?

Es gibt einen berühmten Spruch von Paul Ehrlich: ‚Zum Erfolg braucht der Forscher die vier großen Gs – Geist, Geduld, Glück und Geld.‘ Übertragen auf unser Medikament muss ich zunächst sagen, dass solch eine erfolgreiche Entwicklung sehr selten ist. Im Sinne des Zitats mussten wir neben viel „Geist“, also einer innovativen Chemie, die eine neue Zielstruktur des Virus angreift, auch viel Geduld haben und „mehrfach auf das Tor schießen“, um einmal zu treffen, das heißt wir hatten gegen das Virus mehrere Substanzen mit demselben Wirkprinzip in der Entwicklung. In der pharmazeutischen Forschung liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Medikament zur Marktreife kommt, statistisch bei 1 zu 10. Sie müssen also 10 Medikamente in die Prüfung am Menschen bringen, damit eines den Markt erreicht. In unserem Fall war die dritte Substanz, die in der Phase I am Menschen geprüft wurde, erfolgreich.

Wir haben in unserem Team, dessen Leiterin ich damals noch bei Bayer war, bewusst neue Forschungswege eingeschlagen, in dem wir mit neuer Chemie ein neues Molekül des Virus angegriffen haben. Aber gerade wenn Sie innovative Wege beschreiten, ist die Wahrscheinlichkeit zu scheitern, besonders in der Anfangsphase, um ein Vielfaches höher. Erschwerend kam zu unserer Forschungsarbeit hinzu, dass – kaum hatten wir Letermovir entdeckt – Bayer entschieden hat, sich vom Bereich der Infektionsforschung zu trennen. Als ob die Wissenschaft für eine wirklich innovative Substanz an sich nicht schon herausfordernd genug wäre, stand ich nun vor einer schwierigen Entscheidung, wie die Forschung, von deren Erfolg ich absolut überzeugt war, weitergehen sollte. Oder, wo ich das vierte der großen G‘ s von Paul Ehrlich herbekommen sollte: Das Geld für unsere Forschung.

Ihre Entscheidung sah schließlich so aus, dass Sie 2006 AiCuris als ein Spin-off des Bayer Konzerns gründeten. Was war Ihre Motivation für diesen Schritt?
In einer solchen Situation kommen natürlich Fragen auf. Das waren zum Teil sehr einsame Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob ich mir eine Firmengründung zutraue und ob ich das wirklich will. Ich habe mich dann entschieden, diesen Schritt zu gehen mit der Überzeugung, dass wir gute Forschung in einem sehr wichtigen Bereich machten – nämlich der Infektiologie – d.h. in einem Gebiet mit erheblichem Bedarf an neuen Medikamenten und weil wir von Bayer neben der Virologie auch das ganze Antibiotika-Forschungs-Know-how übernehmen konnten. Über dieses umfangreiche Know-how aus der Bakteriologie verfügen heute nicht mehr viele Unternehmen. Das war eine weitere Motivation für mich – ich wollte dieses Wissen nicht nur erhalten, sondern weiterentwickeln und weiter für die Forschung nutzen. Mit der Gründung von AiCuris habe ich auch das Ziel verfolgt, ein Unternehmen aufzubauen, das in der Infektionsforschung langfristig Erfolg hat und wachsen kann.

Wodurch zeichnet sich AiCuris als Forschungsunternehmen aus?
Wir haben AiCuris als Team von 22 Bayer-Mitarbeitern gestartet. An dieser Stelle muss ich einen großen Dank an das ganze Team aussprechen, das vom ersten Tag zusammengestanden und mit mir das Unternehmen aufgebaut hat. Mitgenommen haben wir unsere Erfahrung aus einer großen Pharmafirma sowie unsere innovative Art der Forschung und haben diese weiterentwickelt. Allerdings hat sich der Führungsstil im neuen Unternehmen komplett verändert. Jeder Mitarbeiter musste von Anfang an viel Verantwortung übernehmen und wir alle mussten uns enorm weiterbilden. Das war auch ein Entwicklungsprozess für mich. Wir konnten aber auch viel mehr gestalten als früher. Eine goldene Regel von Anfang war, dass wir uns einmal die Woche zusammengesetzt und offen besprochen haben, was läuft gut und wo gibt es Schwierigkeiten. Offenheit und Transparenz waren ein großer Wunsch von Seiten der Mitarbeiter. Es war ein gegenseitiges Versprechen, das wir uns gegeben haben. Unser neuer Forschungsansatz und der neue Führungsstil waren wichtige Bausteine für die erfolgreiche, weitere Entwicklung des Unternehmens.

Neben der Entscheidung, AiCuris zu gründen, stand auch die Frage der Finanzierung. Sie waren ein junges Biotech-Unternehmen, das noch ganz am Anfang der Erforschung von Wirkstoffen stand. Mit den beiden Strüngmann-Brüdern, die das Generikaunternehmen Hexal gegründet hatten, haben Sie sich private Investoren ins Boot geholt.

Als ich in meinem „stillen Kämmerlein“ saß und nachgedacht habe, was ich finanziell tatsächlich zur Gründung eines Unternehmens mit langfristiger Perspektive brauchen würde, war mir schnell klar, dass alles rund um die öffentliche Förderung und auch die damaligen Angebote der Venture Capital Geber nicht reichen würden. Also musste ich auch im Finanzierungsbereich neue Wege einschlagen und mir – zumindest damals – ungewöhnliche Investoren suchen. Wir sprachen unter anderem mit einem japanischen Unternehmen. Eines Abends sah ich dann aber in den Fernsehnachrichten, dass die Drs. Strüngmann ihr Unternehmen Hexal verkauft hatten. Ich kannte die beiden Brüder Thomas und Andreas Strüngmann bereits durch einen Vortrag, den ich bei Hexal gehalten hatte. Also beschloss ich anzurufen und zu fragen, ob sie nach der Arbeit mit Generika nun in die innovative Pharmaforschung investieren wollten. Und so kam es nach intensiven Gesprächen, dass wir neun Monate nach dem offiziellen Entschluss von Bayer, die Infektionsforschung zu stoppen, einen Finanzierungsvertrag mit den Gebrüdern Strüngmann in der Tasche hatten und AiCuris starten konnten.

Wie haben Sie Thomas und Andreas Strüngmann von Ihrer Idee überzeugt? Schließlich fiel Ihre Neugründung in eine Zeit, in der gerade die erste Biotech-Blase geplatzt war und somit auch die Euphorie hinsichtlich der Investitionen in diese damals junge Branche eher reduziert war.
Sie haben Recht, es war in dieser Zeit tatsächlich nicht einfach, an Geld zu kommen, vor allem nicht für langfristige Finanzierungen. Ich habe damals zu Thomas Strüngmann gesagt: „Wenn nur eine von den Substanzen durchkommt – welche es sein wird, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen – dann haben wir gewonnen, weil alles sehr innovative Wirkstoffe sind. Und es sind Substanzen, die in Indikationsbereichen angesiedelt sind, in denen es einen hohen medizinischen Bedarf gibt.“ An das wissenschaftliche Profil unserer Substanzen habe ich ganz fest geglaubt.

AiCuris fokussiert sich auf die Entwicklung und Forschung von Wirkstoffen gegen Infektionskrankheiten. Welche weiteren Wirkstoffe sind in der Pipeline?
Es gibt zum einen weitere Wirkstoffe in der Pipeline aus der Bayer-Zeit und Wirkstoffe aus der eigenen AiCuris-Forschung. In der Pipeline haben wir beispielsweise ein Antibiotikum, das gegen die gefürchteten Hospitalkeime wirkt. Und aus der ehemaligen Bayer-Pipeline haben wir noch eine Substanz gegen Herpes, die bereits in Phase 2 hervorragende Wirkergebnisse zeigt. Des Weiteren haben wir auch ein Wirkprinzip gegen Hepatitis B in der Phase 1.

Die Forschung im Bereich der Antibiotika wurde in den vergangenen Jahren von vielen Pharmaunternehmen aufgegeben – warum haben Sie in Ihrem neuen Unternehmen genau auf diesen Bereich gesetzt?
Das ist ein sehr komplexes Thema. Bevor ich die Ausgründung durchgeführt habe, habe ich bei Bayer die gesamte Infektionsforschung geleitet – dazu gehörte natürlich auch die Bakteriologie. Wir haben auch in der Bakteriologie in den Bereichen geforscht und forschen da auch nach wie vor, in denen der Bedarf nach neuen Medikamenten sehr hoch ist: In der Bakteriologie also nach Substanzen gegen die gefürchteten Hospitalkeime. In den Finanzierungsverhandlungen mit Thomas Strüngmann war mein Credo: „Was medizinisch sinnvoll und notwendig ist, wird auch finanziell Sinn machen. Die Rechtfertigung für eine neue Substanz liegt in einer guten Differenzierung und einem besonderen Mehrwert im Vergleich zu der bereits im Markt befindlichen. Mit dieser besseren Differenzierung und dem Mehrwert kann man auch angemessene Preise verlangen.“

Bei den Antibiotika hatte man sich aufgrund der Generika lange Zeit daran gewöhnt, dass sie billig sind. Die Erwartung war, dass auch ein neues Antibiotikum nichts kosten sollte – aber zum Nulltarif können Sie keine Innovationen entwickeln. Wir haben uns trotzdem weiter auf diesen Bereich fokussiert, weil ich gesehen habe, dass es bei Antibiotika in Zukunft einen verstärkten Bedarf nach neuen, Resistenz-brechenden Substanzen geben wird.

Welche Probleme zeigen sich in der Bakteriologie-Forschung im Vergleich zur Virologie?
In der Bakteriologie sehe ich vor allem ein Problem, das wir in der Virologie schon gelöst haben: Die enge Verzahnung von Diagnostik und Therapie. Bei HIV haben wir 24 Jahre nach der Entdeckung des Virus aus einer tödlichen Erkrankung eine behandelbare Krankheit gemacht. Der Grund dafür liegt nach meiner Einschätzung neben einer sehr erfolgreichen Wirkstoff-Forschung an einer sehr engen Verzahnung zwischen Diagnostik und Therapie. Wir konnten das Virus feststellen, darüber hinaus hatten wir einen Test, um zu zeigen, welche Resistenzen vorliegen. Auf Basis der gezeigten Resistenzen konnten wir den passenden Medikamenten-Cocktail für den jeweiligen Patienten zusammenstellen. Die Therapie wurde sodann genau überwacht und es wurde geprüft, ob das Virus wieder wächst – im Grunde genommen eine sehr personalisierte Therapie, die zu einer Änderung des Medikamenten-Cocktails führt, wenn das Virus durch die aktuelle Therapie nicht mehr in Schach gehalten wird. Derselbe erfolgreiche Approach wurde bei Hepatitis C angewendet: Zunächst wurde das Virus, dann die Resistenzen und der Subtyp festgestellt. Auf Basis dieser Ergebnisse wurde schließlich wieder ein passender Medikamenten-Cocktail gewählt und Hepatitis C wurde sogar heilbar!

In der Bakteriologie wird bis heute leider noch sehr empirisch therapiert. Das ist definitiv nicht mehr zeitgemäß. Die Bakteriologie muss auf neue Füße gestellt werden und das muss mit einer guten Diagnostik beginnen. Die Genome der Bakterien sind zwar um einen Faktor von ca. 1.000 komplexer als die von Viren, deshalb müssen Sie viel mehr Daten erheben und viel mehr Daten verarbeiten. Diese Diagnostik ist daher noch in der Entwicklung. Aber es ist meine Vision, dass wir auch im Bereich der Bakteriologie eine enge Verzahnung von Diagnostik und Therapie erreichen. Diese Vorgehensweise wäre voraussichtlich auch sehr viel effizienter für das gesamte Gesundheitssystem.

Gerade in dem Bereich – also der Verzahnung von Diagnostik und Therapie auch in der Bakteriologie – wären die vielzitierten Möglichkeiten der Digitalisierung und Nutzung von Big Data eine hervorragende Unterstützung.
Definitiv. In allen Gremien, in denen ich aktiv bin, mache ich auf die Problematik der nicht vorhandenen schnellen Diagnostik bei Bakterien aufmerksam. Jeder spricht von gezieltem Einsatz von Antibiotika, aber wenn – wie heute noch – überwiegend empirisch therapiert wird, dann ist das kein gezielter Einsatz. Ich glaube, dass das Nadelöhr und die Lösung des Problems in der Diagnostik liegt. Es gibt die verschiedenen Gesprächskreise auf EU-Ebene wie auch auf nationaler Ebene wie zum Beispiel im Bundesgesundheitsministerium. Ich bin überzeugt, dass das Problem verstanden wurde und dass man offen für Lösungen ist.

Was könnten Big-Data-Lösungen tatsächlich leisten?
Mit den technischen Möglichkeiten, dem Nutzen von Big Data und nicht zuletzt mit dem Willen, dafür auch Geld in die Hand zu nehmen, kann das Problem angegangen werden. Sobald klar ist, dass es sich lohnt, eine schnelle und aussagekräftige Diagnostik zu bezahlen, um gezielt therapieren zu können und für den Patienten innerhalb von ein paar Tagen eine deutliche Verbesserung zu erreichen, statt empirisch das nächste Antibiotikum zu geben, wenn das erste nicht gewirkt hat, wird eine Kehrtwende eintreten. Am Ende des Tages ist diese Vorgehensweise für die Gesundheit des Patienten effizienter und dürfte auch in der Gesamtkostenrechnung die günstigere Variante sein.

Big Data wird meines Erachtens immer wichtiger hinsichtlich der Betrachtung eines gesamten Krankheitsfalles von A bis Z. Heutzutage ist die Information noch zu sehr fragmentiert, Daten werden nicht zusammengeführt, weil sie beispielsweise zwischen dem Krankenhaus und dem niedergelassenen Arzt nicht vollständig ausgetauscht werden. Die Daten müssten zwischen den verschiedenen Behandlern und den finanzierenden Kassen mit Zustimmung der Patienten aber ausgetauscht werden können. Das wäre im Sinne des Patientenwohls, aber auch im Sinne des Gesundheitssystems, um die Transparenz zu schaffen, die erlaubt, die therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen in der Gesamtschau zu sehen und ihre Effizienz zu vergleichen.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Pharma- und Biotech-Industrie?
Die Zukunft liegt in der Diagnostik, in Daten, in innovativen Medikamenten und in den entsprechenden „Devices“. Und wer die Verzahnung dieser Trends hinbekommt und Problemlösungen aus einem Guss anbieten kann, der wird gewinnen. Aber man muss auch sagen, dass viele Firmen noch nicht soweit sind. Die größte Herausforderung liegt in dem notwendigen Systemwechsel. Dafür bedarf es der Bereitschaft, neu zu denken, manche Traditionen über Bord zu werfen und andere Wege zu gehen – und zwar von allen Akteuren des Gesundheitswesens.

Immer wieder diskutiert wird der Innovations- und Forschungsstandort Deutschland. Ist Deutschland attraktiv, um hier konsequent in Forschung & Entwicklung zu investieren?
In Deutschland haben wir hervorragende Universitäten und Forschungseinrichtungen mit entsprechend gut ausgebildeten Wissenschaftlern. Wo es uns aber mangelt – das sehe ich aber nicht als rein deutsches, sondern eher als ein europäisches Problem – ist die Frage der Finanzierung und Unterstützung von jungen Unternehmen.

Könnten Sie diese Forderung konkretisieren?
Soweit ich es beurteilen kann, sind die Möglichkeiten ein Unternehmen zu starten, zunächst nicht schlecht. Wenn dieses Unternehmen durch erfolgreiche Entwicklung aber die späten teuren Phasen der klinischen Prüfung erreicht hat, fehlt häufig das Geld. An dieser Stelle sollten kleine Firmen wesentlich besser gefördert werden, zum Beispiel durch Steuervorteile für die Investoren, günstige Kredite für die Firmen oder staatliche Bürgschaften. Aktuell haben wir ja das Problem, dass deutsche Biotech-Firmen zwar innovative Produkte erforschen, sich aber nur bis zu einem bestimmten Punkt entwickeln können. Man bringt zwar eine Substanz bis zur Phase 2, muss sie dann aber abgeben. Mit dieser Vorgehensweise entsteht keine Nachhaltigkeit und keine neue deutsche Pharmafirma.

Für unsere Wirtschaft wäre es besser, wenn das eine oder andere Biotech-Unternehmen nachhaltig wachsen könnte und daraus dann eine neue forschende Pharmafirma entstünde mit Arbeitsplätzen für hochqualifizierte Mitarbeiter vor Ort.

Was heißt das für den Innovationsstandort Deutschland?
Meiner Einschätzung nach muss man die Innovations- und Forschungsstandortfrage immer auch im europäischen Zusammenhang sehen. Hier wäre mein Wunsch, dass Europa auch in dieser Hinsicht – nämlich was Forschung betrifft – wesentlich enger zusammenwächst und wir so einen gesamteuropäischen Forschungsraum bilden könnten, in dem junge Firmen nachhaltig gefördert werden können. Einen interessanten Ansatz in dieser Richtung sehe ich zum Teil im IMI Programm der EU.

Aktuell wird noch immer an der Zusammensetzung einer neuen Bundesregierung gefeilt – wie lauten Ihre Forderungen und Wünsche an die politischen Entscheidungsträger? Welche Punkte sollten dringend auf die gesundheitspolitische Agenda gesetzt werden?

Das eine wäre – wie ich bereits ausgeführt habe – junge, innovative Firmen zu unterstützen. Das heißt, dass die Finanzierung dieser forschenden Unternehmen vereinfacht würde, um diesen Unternehmen eine langfristige Perspektive zu geben.

Wenn ich die Gesundheitspolitik insgesamt betrachte, wäre mir wichtig, dass auch von staatlicher Seite die Betrachtung eines Patientenfalles von A bis Z wesentlich mehr forciert wird, ohne dass ich aber sagen könnte, wie man das genau umsetzt. Es sollte der Fokus stärker darauf gesetzt werden, dass Patientendaten generiert, in einem geeigneten, sicheren System ausgewertet und genutzt werden, um daraus schließlich die Entscheidungen für die Therapie zu ziehen und die Effizienz der Maßnahme zu dokumentieren. Das hieße letztendlich wahrscheinlich auch, dass sich das gesamte Gesundheitssystem ändern müsste. Von den vielen einzelnen Akteuren, die noch zu sehr in ihren eigenen Silos denken und agieren, hin zu einer eher homogenen Einheit, die den Fokus auf das Wohl des Patienten und die Effizienz der Maßnahmen setzt.

Auf der Ebene des Patienten wird die Erkenntnis der eigenen Verantwortung für die Gesundheit ein zentrales Leitmotiv werden und damit auch die Entwicklung des gesamten Gesundheitssystems beeinflussen. Dafür brauchen die Menschen wiederum gute und unabhängige Informationen, um sich um ihre Gesundheit kümmern zu können. Ich sehe hier in der Digitalisierung eine große Chance, dass der Patient mündiger wird.


Frau Professor Rübsamen-Schaeff, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Jutta Mutschler, Ltd. Redakteurin „MA&HP“.

Aus: Titelinterview in "Market Access & Health Policy" Ausgabe 02 / 2018

Ausgabe 02 / 2018