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Vom Dogmatismus zum Pragmatismus: Einsatzgebiete für Cannabisblüten als Ergänzung zur Basistherapie mit Cannabisextrakten

20.11.2023 16:16
Die Verordnung von Cannabinoiden ist für viele Schmerzmediziner schon lange kein unbekanntes Terrain mehr. Dennoch stellt sich oft die Frage: Extrakt oder Blüte? Inwiefern die Anwendung und der Einsatz von Cannabisblüten in der Schmerz- und Palliativmedizin zu einem Behandlungserfolg beitragen können, erläuterten Experten in Rahmen eines Symposiums von Tilray beim Deutschen Schmerzkongress 2023 in Mannheim. Zudem warfen die Referenten auch einen Blick auf die Stellung der Apotheke sowie der Pharmazeuten in der Cannabisblütentherapie.

Cannabis wird schon seit Tausenden von Jahren medizinisch eingesetzt: ob in der schamanistischen Medizin gegen Malaria, im Römischen Reich gegen Schmerzen oder im Mittelalter zur Behandlung von rheumatischen Beschwerden. Heutzutage finden Cannabisextrakte und Cannabisblüten immer häufiger Anwendung in der Schmerz- und Palliativmedizin. Was gerade Cannabisblüten für die Behandlung interessant macht, erklärte Dr. med. Christoph Wendelmuth: Rund 30 % der verordneten Cannabisarzneimittel in Deutschland seien Cannabisblüten. Die Inhaltsstoffe der Cannabisblüten gleichen einer Schatzkiste: 100 bis 150 Phytocannabinoide, ca. 120 Terpene und ca. 20 Flavonoide wirkten dank Entourage-Effekt unterstützend bei der Therapie, so der Experte. Zudem sei vor allem die inhalative Anwendung durch einen Vaporisator für die Patientinnen und Patienten leicht durchzuführen und der Effekt steuerbar. Cannabisblüten eigneten sich besonders für Patienten mit einer akuten Beschwerdesymptomatik und einem hohen THC-Bedarf. Durch die Inhalation könne eine kurze, aber intensive und schnell eintretende Wirkung herbeigeführt werden.

Sativa und Indica – Zwei Arten von Cannabisblüten?

Noch immer werden Cannabisblüten häufig fälschlicherweise in Sativa und Indica Sorten unterschieden und diesen Bezeichnungen unterschiedliche Wirkweisen zugesprochen. Der Apotheker Markus Hanl, der als Referent mit seinem Wissen aus der Apothekenpraxis auftrat, ergänzte, dass eine klare Zuweisung auf genetischer Ebene für moderne Sorten nicht darstellbar sei. Die pharmakologischen Gründe für diese Unterscheidung könnten vermutlich den Terpen- oder Phytocannabinoidprofilen zugrunde liegen.

Cannabisblüten bei chronischen Schmerzen

In seinem Beitrag erklärte Christoph Wendelmuth, dass Cannabinoide erfolgreich gegen chronische Schmerzen eingesetzt werden könnten. So würden zahlreiche randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) Cannabinoide gegenüber Placebo bei chronischen Schmerzen deutlich bevorzugen. Aus diesen Studien könne der Schluss gezogen werden, dass Cannabisblüten in der Therapie gute Ergebnisse erzielen können. Hinsichtlich der Nebenwirkungen erwiesen sich Cannabisblüten als verträglich. Eine Meta-Analyse zeigte z. B., dass in RCTs bei der Indikation Tumorschmerz weniger Nebenwirkungen unter wirksamer Cannabinoiddosis als Add-on zu Opioiden als unter Kontrollbedingungen zu beobachten waren. Sowohl Benommenheit, Übelkeit, Erbrechen und Schläfrigkeit zeigten sich stärker unter Kontrollbedingungen.1

Dr. Wendelmuth konnte ferner in einer selbst durchgeführten Studie zeigen, dass bei 17 von 40 geriatrischen Patienten eine um 30 bis 50 % reduzierte durchschnittliche Schmerzstärke durch den Einsatz von Cannabisblüten erzielt werden konnte. Eine um 20 bis 50 % reduzierte durchschnittliche Schmerzstärke konnte sogar bei 23 von 40 Patienten (57,5 %) erreicht werden. Von 40 Studienteilnehmern gaben insgesamt 74 % an, keine Nebenwirkungen zu verspüren. Mit Hilfe einer vorgestellten Kasuistik machte Christoph Wendelmuth erneut klar, warum er die Cannabisblütentherapie bei Schmerzpatienten für so vielversprechend hält: Schmerzattacken konnten deutlich reduziert sowie eine stabile Schmerzsituation erreicht werden.2

Die Rolle der Apotheken

Aufgabe von Apothekerinnen und Apothekern sei es, die Qualität der Cannabisblüten sicherzustellen, so Apotheker Markus Hanl. Um diese zu gewährleisten, muss eine zu hohe mikrobielle Belastung der Blüten ausgeschlossen werden. Auch die Feststellung anderer Qualitätsmängel liege momentan in den Händen der Apotheker, so der Experte. Bei Cannabisblüten als Ausgangsstoff zur Herstellung von Rezepturarzneimitteln übernimmt die Apotheke die Herstellung durch Zerkleinerung, Abfüllung und Etikettierung. Von einer Teezubereitung mit Cannabisblüten riet der Experte ab: die vollständige Decarboxylierung der Cannabinoide sei nicht garantiert und zudem seien sie nur minimal wasserlöslich. Eine genaue Dosierung und gleichbleibende Wirkstoffmenge sei bei Tees nicht realisierbar. Er empfahl stattdessen die Einnahme über einen Vaporisator, der sehr einfach in Handhabung und Dosierung sei. Dabei würden die Cannabinoide auf 180 °C bis 210 °C erhitzt, decarboxyliert und zu einem inhalierbaren Aerosol verdampft. Vaporisatoren können über ein Hilfsmittelrezept verordnet werden. Befinden sich Patientinnen und Patienten bereits unter Cannabisblütentherapie, ist die Apotheke häufig die erste Anlaufstelle. Hier kann zuverlässig über vorhandene Bestände informiert werden, um eine lückenlose Therapie zu gewährleisten.

Hürden meistern

Beide Experten waren sich einig: in der Cannbisblütentherapie kann mehr gewagt werden. „Haben Sie keine Scheu!“, so Wendelmuth. 5000 Jahre Anwendung in der Schmerztherapie sind eines vieler Argumente, die für eine Cannabinoidtherapie sprächen. Auch Hanl appelliert an die Rationalität der Verordner: „Schauen Sie, was Ihre Patientinnen und Patienten brauchen, und seien Sie neuen Methoden gegenüber aufgeschlossen“.

 

Referenzen
1. Cannabinoids for adult cancer-related pain: systematic review and meta-analysis, Boland EG, Bennett MI, Allgar V, et al. BMJ Supportive & Palliative Care 2020;10:14–24.
2. Wendelmuth C, Wirz S, Torontali M, Gastmeier A, Gastmeier K. Dronabinol bei geriatrischen Schmerz- und Palliativpatienten: Eine retrospektive Auswertung der ambulanten kassenärztlichen Therapie. Schmerz. 2019;33(5):384–391. doi: 10.1007/s00482-019-00408-1