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Mangelnde Adhärenz – Herausforderung für die Pharmaindustrie

18.12.2017 10:30
Gesundheitspsychologe Prof. John Weinman und Atlantis Healthcare präsentierten Hintergründe und Lösungsansätze. Chronische Erkrankungen erreichen weltweit ein epidemisches Ausmaß. Für die Betroffenen bedeutet eine solche Erkrankung tiefgreifende Veränderungen in privaten, sozialen und meist auch wirtschaftlichen Aspekten, meist auch die lebenslange Bindung an eine medikamentöse Therapie. Laut Schätzungen der WHO nehmen jedoch etwa 50 Prozent der chronisch Erkrankten ihre Medikamente nicht oder nicht regelmäßig wie vom Arzt verordnet ein. Diese sogenannte Non-Adhärenz ist eine der zentralen Herausforderungen der Pharmakotherapie, mit erheblichen Belastungen für das gesamte Gesundheitssystem.

Ging die Wissenschaft lange davon aus, dass Patienten allein durch ein Mehr an Information den Umgang mit ihrer Erkrankung verbessern würden, belegen jüngere Forschungen, dass die Komplexität weitaus größer ist – und erfolgreiche Ansätze für eine positive Verhaltensänderung durchaus möglich sind.

Professor John Weinman, einer der Pioniere der Gesundheitspsychologie, erläuterte anlässlich eines Vortrages bei Atlantis Healthcare in Frankfurt vor Vertretern pharmazeutischer Unternehmen die zugrundeliegenden psychologischen Mechanismen sowie Lösungsansätze zur Steigerung der Adhärenz.

Entscheidend dafür, ob und wie ein Patient sich an eine Therapie hält, sind seine persönlichen Meinungen und Überzeugungen, beispielsweise bezüglich seiner Erkrankung, der Wirksamkeit oder Notwendigkeit einer Therapie. Nur wenn man diese Überzeugungen kennt, kann man die notwendigen Verhaltensänderungen initiieren. „Oft sind die Überzeugungen der Patienten für den Arzt ein Buch mit sieben Siegeln“, so Weinman, „sie werden im klassischen Arzt-Patienten-Gespräch nicht thematisiert.“ Genau hier aber setzen erfolgreiche Patientenunterstützungsprogramme an und steigern nachhaltig die Therapietreue.

Gründe für Non-Adhärenz

Ein Medikament, das nicht eingenommen wird, kann auch nicht wirken. Doch wurde die Einnahme schlicht vergessen oder hat sich ein Patient bewusst dagegen entschieden? „Für ein nicht adhärentes Verhalten gibt es verschiedene Gründe, anhängig von der Situation und der betroffenen Person“, so Weinman. Anhand des COM-B Modells erläutert der Wissenschaftler des Kings College in London drei wesentliche Faktoren, die Einfluss auf ein Verhalten (B für behaviour) ausüben:

- Capabilities / Fähigkeiten – Intrinsische Aspekte, die entweder psychologisch (Verständnis der Krankheit oder Behandlung, Gedächtnis, Planungsfähigkeit) oder physisch (Möglichkeit, eine Therapie anzuwenden) bedingt sind,
- Opportunities / Möglichkeiten – externe Aspekte, die sowohl physischer (Kosten der Behandlung, Zugang, Komplexität der Therapie, Beziehung zum behandelnden Arzt) oder sozialer Natur (mit der Erkrankung assoziierte Stigmata, religiöse oder kulturelle Überzeugungen) sein können,
- Motivators / Motivatoren - Einflüsse, die ein Verhalten initiieren oder steuern und sowohl reflektiv (Wahrnehmung der Erkrankung, Meinung zur Therapie, Erwartungen bezüglich des Behandlungsergebnisses) oder automatisch (Stimuli die eine Handlung hervorrufen) bedingt sind.

„Die Adhärenz eines Patienten kann von einem, mehreren oder allen dieser Faktoren beeinflusst sein. One size fits all ist folglich der falsche Ansatz. Entsprechend muss jedes Programm, dass die Therapietreue beeinflussen will, maßgeschneidert auf die individuell relevanten Faktoren abzielen“, so Weinman.

Selbst-Management als oberstes Ziel

Dr. med. Gunther Lorenz, Geschäftsleiter von Atlantis Healthcare in Deutschland: „Basierend auf diesem wissenschaftlichen Ansatz stehen für uns bei der Entwicklung eines nachhaltig wirksamen Patientenunterstützungsprogramms drei Bausteine im Vordergrund: Verstehen, verbinden und verändern.“ Der Ausgangspunkt ist die Überzeugung des Patienten. Sie kann sich teils erheblich von der Sicht des Arztes unterscheiden. Deshalb werden von Beginn an interne und externe Stakeholder eingebunden und eine Evidenzbasis aufgebaut, um die Therapie- und Patientenspezifischen Auslöser von Nicht-Adhärenz zu identifizieren.“

Gleichzeitig werden die Ziele des Programms auf den unterschiedlichen Ebenen definiert: von der Erreichung der Persistenz auf Patientenebene über die Vermittlung der Notwendigkeit eines Selbstmanagement-Programms auf Behandler-Ebene hin zu einer Differenzierung gegenüber Wettbewerbern auf Unternehmensebene. Im nächsten Schritt werden evidenzbasiert Inhalte für eine wirksame, zielgenaue Intervention entwickelt, basierend auf den durch das COM-B-Modell als wesentlich identifizierten Verhaltensweisen und den für die gewünschte Intervention relevanten psychologischen Mechanismen. „Durch die Implementierung dieser personalisierten und bedarfsorientierten Inhalte wird die richtige Intervention über den richtigen Kanal zum richtigen Zeitpunkt für die richtige Person bereitgestellt und so ein angemessenes Selbstmanagement ermöglicht“, so Lorenz weiter.

Pharmazeutische Unternehmen und Kostenträger sind gut beraten Experten einzubinden, die das "Warum” hinter einem nicht-adhärenten Verhalten verstehen und beeinflussen können. Denn nur dann können sie personalisierte Interventionen entwickeln, die jedem Patienten eine nachhaltige Therapietreue ermöglichen, Behandlungsergebnisse verbessern und somit die Belastung für das Gesundheitssystem reduzieren.

 

John Weinman
John Weinman ist Professor für Gesundheitspsychologie am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften des Kings College in London. Er gilt als einer der Begründer der modernen Gesundheitspsychologie. Seine Forschungen umfassen die Bereiche Kognition und Gesundheit, Kommunikation und Entscheidungsfindung im Gesundheitsbereich sowie Selbstregulation und Selbstmanagement bei chronischen Krankheiten. Seine Arbeit ist die zentrale Grundlage für die Patienten-Management-Programme von Atlantis Healthcare. Prof. Weinman ist Autor zahlreicher Fachbücher und wissenschaftlicher Publikationen.