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Zi: Projektion zur Inanspruchnahme der vertragsärztlichen Versorgung bis 2030

13.02.2023 17:26
Die Patientinnen und Patienten in Deutschland werden die vertragsärztliche und psychotherapeutische Versorgung auch in den nächsten Jahren vermutlich weiterhin stark in Anspruch nehmen. Da die Bevölkerungszahl in aktuellen Prognosen insgesamt nicht mehr abnimmt, steht einem Bevölkerungsrückgang in ländlichen Regionen eine zunehmende Verdichtung urbaner Räume gegenüber. Das ist eines der ersten Zwischenergebnisse einer aktuellen Bedarfsprojektion zur zukünftigen Beanspruchung von Vertragsärzt:innen und Psychotherapeut:innen bis 2030, die das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) vorgestellt hat und in Kürze veröffentlichen wird.

Somit werde die Beanspruchung der ärztlichen Versorgung in den Städten noch stärker zunehmen als in dünner besiedelten Räumen, denn die insgesamt zunehmende Alterung der Bevölkerung in Deutschland trage dazu bei, dass spezifische Fachgruppen wie Innere Medizin, Urologie und Augenheilkunde in den kommenden Jahren immer stärker nachgefragt würden. So zeigte ein weiteres Ergebnis, dass die Nachfrage bei Fachinternist:innen und Urolog:innen bis 2030 bundesweit um bis zu acht Prozent ansteigen könnte. In der Augenheilkunde und bei Hals-Nasen-Ohren-Ärzt:innen könnte sich dieser Beanspruchungsindex um bis zu fünf Prozent erhöhen. Noch deutlicher fällt laut Auswertung die Projektion des Versorgungsbedarfs für den Bereich der Psychotherapie aus: Hier ergebe sich auf Basis der Bevölkerungsprognose und unter Berücksichtigung der Inanspruchnahmeentwicklung der letzten Jahre ein projizierter Nachfrageanstieg von 23 Prozent bis 2030.

„Unsere Studie zeigt die Entwicklung der zu erwartenden Fallzahlen in der vertragsärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung aufgrund der Bevölkerungsprognose und der bisherigen Leistungsinanspruchnahme zwischen 2011 und 2019“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried. Insgesamt sei danach auch in den kommenden fünf bis zehn Jahren mit einer moderaten Zunahme der Fallzahlen in diesen Versorgungsbereichen zu rechnen. Konstant bis leicht ansteigend bleibe die Beanspruchung der hausärztlichen Versorgung. „Einen deutlichen Anstieg der Fallzahlen erwarten wir bei bestimmten Facharztgruppen, die hauptsächlich an der Behandlung älterer Menschen beteiligt sind, allen voran bei den fachärztlichen Internistinnen und Internisten. Hier spiegeln sich Verlagerungen aus der stationären Krankenhausbehandlung, mehr Spezialisierung aber auch mehr fachärztliche Mitbehandlung und fachübergreifende Kooperation wider, die zu steigenden Patienten- und Fallzahlen führen. Zudem müssen wir mitdenken, dass der medizinische Fortschritt immer mehr ambulante Behandlungen möglich und immer weniger Krankenhausbehandlung notwendig macht. Deshalb müssen wir umdenken. Bisher betrachten wir die Ballungsräume als ärztlich überversorgt. Tatsache ist, dass wir dort eine besondere Zunahme des Versorgungsbedarfs erwarten müssen“, so von Stillfried.

„Eine Besonderheit sehen wir bei den ärztlichen und nichtärztlichen Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Geht man rein nach der Bevölkerungsprognose würden wir dort Fallzahlrückgänge erwarten, weil die Psychotherapie bisher vor allem von Personengruppen in Anspruch genommen wird, deren Anteil an der Bevölkerung künftig zurückgeht. Die Inanspruchnahme bei diesen Alterskohorten hat sich aber verändert. Die Fallzahl ist massiv angestiegen, weil die Zahl der behandelten Patientinnen und Patienten seit 2011 jedes Jahr deutlich zugenommen hat. Haben 2011 noch knapp 2,5 Prozent aller gesetzlich Versicherten eine psychotherapeutische Leistung in Anspruch genommen, waren es 2019 fast 3,5 Prozent und 2021 bereits über 3,7 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat die Zahl der GKV-Versicherten um 3,7 Millionen Menschen zugenommen. 2021 waren mehr als 2,7 Millionen Menschen in psychotherapeutischer Behandlung – das entspricht der Einwohnerzahl von Hamburg und Frankfurt zusammengenommen“, machte der Zi-Vorstandsvorsitzende deutlich.

Dr. Annette Rommel, 1. Vorsitzende der KV Thüringen und Fachärztin für Allgemeinmedizin mit eigener Praxis im thüringischen Mechterstädt, hob in ihrem Vortrag hervor, dass der substanzielle Mangel an geeigneten Fachkräften längst in der ambulanten medizinischen Versorgung angekommen sei. Es müsse vermieden werden, dass sich daraus entwickelnde Versorgungslücken weiter öffneten, so Rommel weiter. „Um unsere Bedarfsplanung noch zielgenauer justieren zu können, müssen wir die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen in der Zukunft noch besser abschätzen können." Die vorgestellte Bedarfsprojektion zeige deutlich, wohin die Reise gehe: Mehr Versorgungsbedarf der älter werdenden Bevölkerung, weniger verfügbare Arztzeit.

Auch Prof. Dr. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, erhob die Forderung nach Aufstockung der Studienplatzkapazitäten in der Humanmedizin. Das bleibe notwendig, werde aber zu spät wirken. Die Dauer der Weiterbildung, die im Übrigen weitgehend in der ambulanten Versorgung absolviert werden könne, sollte verringert werden, wenn die Inhalte vereinfacht und spezielle Kompetenzen in der späteren Berufstätigkeit erworben werden könnten. Mindestens ebenso dringlich werde ein klares Konzept für eine multiprofessionelle Versorgung der Patientinnen und Patienten benötigt. Medizinische Fachkräfte, die mit kürzeren Ausbildungszeiten zur Verfügung stünden, könnten hier wichtige Aufgaben übernehmen. Die verfügbaren Personalkapazitäten könnten dann am effizientesten genutzt werden, wenn die Zusammenarbeit innerhalb der Versorgungseinrichtungen erfolge. Künftig müsste dabei auch das Delegationsprinzip so erweitert werden, dass Delegation im Rahmen telemedizinischer Zusammenarbeit erfolgen könne. Um zu vermeiden, dass die Politik auf immer neue Insellösungen fokussiere, sollte aus den Reihen der Ärzteschaft ein schlüssiges Konzept zum Umgang mit den Herausforderungen vorgelegt werden, empfahl Herrmann abschließend.

 

 

Zur Methodik des vorgestellten relativen Beanspruchungsindex (rBIX):
Auf Basis von vertragsärztlichen Abrechnungsdaten des letzten präpandemischen Jahres 2019 und einer Bevölkerungsprognose wird die aktuelle Inanspruchnahme zum Jahr 2030 fortgeschrieben. Als neues Element wird außerdem die Entwicklung der Inanspruchnahme der Jahre 2011 bis 2019 ermittelt, die ebenfalls in die Projektion einfließt. Das Ergebnis ist der relative Beanspruchungsindex (rBIX), der für unterschiedliche Fachgruppen und regional differenziert berechnet wird. Er gibt an, um wie viel Prozent die Beanspruchung vertragsärztlicher Leistungen im Jahr 2030 voraussichtlich von der im Basisjahr 2019 abweicht. Um dieser zukünftigen Nachfrage auch eine Abschätzung des zukünftigen Angebots gegenüberzustellen, werden die jüngsten Nachbesetzungsquoten und die Altersstruktur von Vertragsärzt:innen betrachtet.