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Flächendeckende Palliativversorgung ist akut gefährdet

05.10.2022 12:28
Zweieinhalb Jahre nach Pandemiebeginn beobachtet die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) mit Sorge einen bundesweiten Rückgang der Anzahl an Palliativstationen nach über 25 Jahren stetigen Aufbaus. „Seit 2020 ist es zu Schließungen, strukturellen Verschiebungen und anderen Rückentwicklungen überwiegend infolge der Coronapandemie und des Personalnotstands gekommen“, erklärt die Präsidentin der DGP, Prof. Dr. Claudia Bausewein, LMU Klinikum München, bei der Eröffnung des 14. DGP-Kongresses in Bremen.

Hinzu komme: „Gleichzeitig sind die ergänzenden multiprofessionellen spezialisierten Palliativdienste an Krankenhäusern längst nicht in dem im Hospiz- und Palliativgesetz vorgesehenen Maße auf- und ausgebaut worden. Grund dafür ist eine nach wie vor uneinheitliche und unsichere Finanzierungssituation.“

Auch Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krebshilfe, warnt: „Wir sehen die aktuellen Entwicklungen mit großer Sorge. Als Wegbereiterin der Palliativmedizin in Deutschland haben wir seit fast vier Jahrzehnten in hohem Maße zum Aufbau palliativmedizinischer Versorgungsstrukturen beigetragen und in die Aus- und Weiterbildung sowie Forschung investiert. Die Corona-Pandemie hat jedoch nachweislich zu signifikanten und anhaltenden Defiziten geführt. Diese Rückentwicklung stellt eine Gefährdung der bisherigen Erfolge dar. Es erscheint uns zwingend, dass die durch die Pandemie verursachten Probleme und auch der aktuelle Pflegenotstand gesundheitspolitisch ernst genommen werden und hier zeitnah gehandelt wird.“

Akademisierung der Pflege voranbringen

„Stagnation und Rückschritte sind ebenso im ambulanten Bereich alarmierend“, ergänzt Kongresspräsidentin Prof. Dr. Anne Letsch, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel: „Für lebensbegrenzend erkrankte Menschen ist eine abgestimmte Koordination von Klinikaufenthalten und der Versorgung im Hospiz, Pflegeheim oder zuhause essentiell! Diese ist aktuell sehr erschwert.“

Das Leitmotiv des Kongresses „Palliativversorgung – Segeln hart am Wind“, zu dem sich rund tausend Teilnehmende in Bremen und weitere 300 Besucher:innen bundesweit an ihren Bildschirmen zusammengefunden haben, spiegelt außerdem weitere Grenzerfahrungen und Herausforderungen in der Palliativversorgung wieder. Kongresspräsidentin Prof. Dr. Henrikje Stanze, Hochschule Bremen, erläutert dies an einem zentralen Punkt: „Der qualitative und quantitative Anspruch steigt, wir benötigen dringend eine Akademisierung in der Pflege und entsprechende Stellen in der Praxis, damit die Pflege für sich selbst sprechen und argumentieren kann. Dies auch, um den Pflegenotstand von Seiten der Pflege aktiv zu bekämpfen.“ Die Pflegefachkräfte nehmen im Palliativteam eine wesentliche Rolle ein – sie sind häufig den schwerkranken Menschen und ihren Angehörigen sehr nah und wissen um Bedarfe und Bedürfnisse, wodurch ihrer Einschätzung im interprofessionellen Teamaustausch besonders wichtig ist.

Wer braucht welche Palliativversorgung? Was kann die Telemedizin beitragen?

Hier kommt als weiterer Schwerpunkt des Kongresses die Digitalisierung ins Spiel, ergänzt Kongresspräsident Prof. Dr. Christian Junghanß, Universitätsmedizin Rostock, zwei grundlegende Fragen werden aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen: „Wie kann die Verknappung von Personal durch digitale Angebote kompensiert werden? Wie können schwerkranke Patient:innen auch mit Hilfe der Telemedizin gut versorgt werden?“ Die Digitalisierung ist ebenso für das Kongressformat bedeutsam, da etwa ein Viertel der Teilnehmenden die drei Kongresstage allein über den Bildschirm miterlebt.

Der Kongress bietet Antworten aus Klinik und Forschung auf zahlreiche Fragenkomplexe, aus denen Kongresspräsidentin Prof. Dr. Anne Letsch diese herausgreift: Wer braucht welche Palliativversorgung? „Bei knapper werdenden Ressourcen ist es essenziell Kriterien zu definieren, wer und wann allgemeine oder spezialisierte Palliativversorgung benötigt.“ Welche Behandlungsstandards müssen gelten? Wie kann der Bedarf von schwerkranken Patient:innen und ihren Angehörigen eingeschätzt und erfüllt werden? Wieviel Forschung darf oder sollte sein? Und: Was können wir von den schwerkranken Menschen, ihren Familien und den Palliativteams lernen für den Umgang mit anderen, neuen Krisen des Lebens?